Stottern


Stottern und Stottertherapie

Stottern im Kindesalter

Definition

Stottern ist eine Störung des Sprechablaufs. "Stottern bedeutet unfreiwillige Blockierungen, die Verlängerung von Lauten und die Wiederholung von Lauten" (Bloodstein, 1993).

Fakten

Bei etwa 5 % aller Kinder tritt Stottern auf. Stottern kann ab dem Alter von etwa 2 Jahren beginnen. Vor dem 4. Lebensjahr fängt das Stottern bei der Hälfte dieser Kinder an, bis zum 6. Lebensjahr bei 90% all dieser Kinder. Nach dem 12. Lebensjahr ist nur noch sehr selten mit einem Beginn von Stottern zu rechnen.
Die Symptomatik zu Beginn der Störung kann von Anfang an dramatisch ausgeprägt sein, kann sich aber auch schleichend über einen längeren Zeitraum ausprägen. Stottern zeigt typischerweise einen Verlauf in Schüben - symptomarme Phasen wechseln sich ab mit Zeiten starker und häufiger Symptomatik. Stottern kann sehr situationsabhängig sein (z.B. Gesprächspartner, Gesprächssituation, Tageszeit oder Verfassung etc.)
Zwischen 60% und 80% Prozent (Silverman, 1996) der stotternden Kinder verlieren das Stottern wieder (Remission). Die Zahl derer, die das Stottern beibehalten, liegt dann bei etwa 1 % der Bevölkerung.
Hier treten fast keine Remissionen mehr auf - stotternde Erwachsene müssen sich auf ein Leben mit Stottern einstellen.
In den ersten Jahren stottern etwa gleichviel Mädchen wie Jungen. Dieses Verhältnis verschiebt sich, so dass im Jugendalter 3 - 4 mal mehr Jungen stottern als Mädchen, und zwar weil es bei Mädchen häufiger zu Remissionen kommt.

Beschreibung

Sprechunflüssigkeiten wie Wiederholungen von Wörtern oder Satzteilen, Pausen oder Flicklaute kommen bei allen Sprechern vor, sowohl bei Kindern als auch bei Erwachsenen. Sie werden von Zuhörern und Sprechern nicht als Stottern empfunden und irritieren normalerweise nicht.
Stottern liegt vor, wenn spezielle Unflüssigkeiten auftreten, nämlich Blockierungen (Steckenbleiben von Lauten), Dehnungen (wwwann) oder Wiederholungen (kakakakann) von Lauten. Diese sogenannten "Kernsymptome" lassen sich bei Nichtstotternden fast nie beobachten. Stottern im Kindesalter lässt sich daher eindeutig von normalem unflüssigem Sprechen abgrenzen. Auch Laien können Stottersymptome in den meisten Fällen sicher erkennen (Sandrieser und Schneider, 2001).
Stotternde Kinder erleben, dass sie zeitweise die Kontrolle über ihr Sprechen verlieren. Sie werden dadurch behindert, dass sie für ihre sprachliche Ausführungen mehr Zeit brauchen und die Form ihrer Wörter entstellt ist. Auf die Behinderung "Stottern" können Kinder intuitive oder/und bewusste Reaktionen zeigen, die hörbar und sichtbar werden als:

  • Versuche, aus dem Stottersymptom zu fliehen (Fluchtverhalten)
  • vermehrte Anstrengung während des Symptoms (dagegen Ankämpfen)
  • Mitbewegungen von Körperteilen, die nicht zum Sprechen gebraucht werden, z.B. Kopfbewegungen, mit dem Fuß aufstampfen
  • auffällige Atmung, um ein Symptom zu beenden
  • Strategien, um Stottern vorzubeugen (Vermeideverhalten)
  • Vermeiden von Situationen oder Wörtern, in denen Stottern auftreten könnte
  • Veränderung der Sprechweise (Singen, Flüstern), weil dann Stottern seltener auftritt

diese Strategien verlieren leider häufig ihre Wirkung, bestehen aber dennoch fort. Diese Strategien sind Ausdruck davon, dass Kinder Angst im Stottersymptom bzw. vor dem nächsten Symptom erleben. Auf diese Weise entsteht über die Wiederholungen, Dehnungen und Blockierungen hinaus eine Begleitsymptomatik, die auffälliger und belastender sein kann, als das Stottern selbst.

Offenes und verdecktes Stottern

Wenn die Symptomatik von Stotternden offen erkennbar ist, spricht man von "Offenem Stottern". Durch geschicktes Vermeiden von Wörtern und belastenden Sprechsituationen und andere "Tricks" oder durch sehr hohe mentale Kontrollanstrengung können manche Stotternde ihr Stottern sehr gut verbergen. Hier spricht man von "verdecktem Stottern". Auch wenn solche Stotternde nach außen fast wie Normalsprecher wirken, leiden sie häufig sehr unter ihrem Stottern und der hohen Anstrengung, wie ein Normalsprecher zu wirken. Ursachen Die Ursachen von Stottern sind bisher nicht ausreichend erforscht, obwohl sich immer mehr Wissenschaftler mit Stottern im Kindesalter beschäftigen. Nach dem aktuellen Forschungsstand müssen verschiedene Faktoren zusammentreffen, damit Stottern auftritt. Dabei unterscheidet man

  • Veranlagungsfaktoren (z.B. genetische Vorbelastung, Sprachentwicklungsverzögerung)
  • auslösende Faktoren (z.B. Wortschatz, der so schnell wächst, dass die Sprechmotorik nicht schritt hält)
  • aufrechterhaltende Faktoren (z.B. Angst vor dem nächsten Stottersymptom, angestrengter Versuch, auf keinen Fall zu stottern).

Der aktuelle Forschungsstand zeigt, dass...

...Stottern nicht aus einer gestörten Atmung entsteht - gestörte Atmung ist die Folge von Stottern.
...es bei den Eltern von stotternden Kindern dieselbe Vielfalt an Verhaltensweisen ihren Kindern gegenüber gibt, wie bei den Eltern von nichtstotternden Kindern. Wenn Unterschiede beobachtbar sind, kann das daher kommen, dass die Eltern nicht wissen, wie sie richtig auf das Stottern reagieren sollen. Eltern können Stottern nicht verursachen, aber auslösen oder aufrechterhalten. Daher ist es falsch, Eltern die Schuld am Stottern ihres Kindes zuzuweisen.
...Stottern keine psychische Ursache hat - Stotternde sind genauso oft und in derselben Weise psychisch auffällig, wie die Normalbevölkerung. Psychische Auffälligkeiten können aber die Folge von Stottern sein.
...in der Gruppe der Stotternden dieselbe Bandbreite an Intelligenz vorliegt, wie in der nicht stotternden Bevölkerung.
...Kinder Stottern nicht durch Nachahmung erwerben.
...Stottern entsteht auch nicht, weil Kinder zu faul sind, ordentlich zu sprechen oder weil sie mit dem Stottern etwas erreichen wollen.

Diagnostik

Die Erstdiagnostik wird von Kinderärzten, HNO-Ärzten oder Phoniatern durchgeführt. Wenn diese ein Kind als behandlungsbedürftig einschätzen, wird eine Verordnung für logopädische Therapie ausgestellt. Logopäden erheben dann einen logopädischen Befund. In der logopädischen Diagnostik wird festgestellt, ob ein Kind stottert und ob eine Behandlung erforderlich ist. Eine Beratung der Eltern ist nötig, auch wenn kein behandlungsbedürftiges Stottern vorliegt. Darin erhalten die Eltern Informationen über Gefahrensignale für behandlungsbedürftiges Stottern und über ihre Möglichkeiten, ihr Kind zu unterstützen. Die Diagnostik erfasst mit einem Elterngespräch und mit der Untersuchung des Kindes

  • die Anamnese
  • die Art und Häufigkeit der Stottersymptomatik
  • die psychischen Reaktionen auf das Stottern
  • den Sprachentwicklungsstand
  • den allgemeinen Entwicklungsstand
  • sonstige Risikofaktoren mit aufrechterhaltender Wirkung

Die Schwierigkeit in der Messung des Schweregrads des Stotterns liegt darin, dass der Schweregrad von Stottern situations- oder phasenabhängig stark schwanken kann. Außerdem können viele Kinder ihr Sprechen kurzfristig so gut kontrollieren, dass kein Stottern sichtbar wird (verdecktes Stottern). Daher können im Einzelfall mehrere Diagnostiktermine notwendig sein.

Therapie

Es gibt im deutschsprachigen Raum eine Vielzahl unterschiedlichster seriöser und unseriöser Therapieverfahren. Diese lassen sich unterscheiden nach

  • Verfahren, die dem Patienten ermöglichen, mit ihrem Stottern selbstbewusst umzugehen und in die Stottersymptomatik einzugreifen. Die zugrundeliegende Theorie ist, dass bei Stottern die Patienten grundsätzlich sprechen können, aber zwischenzeitlich Zusammenbrüche der Sprechfähigkeit auftreten. Daher muss ein Patient nicht das Sprechen neu lernen, sondern er muss lernen, die Symptome entweder rechtzeitig vorher "abzufangen" oder, wenn dies nicht gelingt, das Symptom möglichst schnell unter Kontrolle zu bekommen und dann aufzulösen. Dafür erarbeiten sich die Patienten einen angstfreien Umgang mit Stottern. Auf diese Weise können sie auch mit den stottertypischen Phasen mit verstärkter Symptomatik zurecht kommen. Wesentlich ist, dass stotternde Kinder keine Angst vor dem Stottern, Sprechen oder vor Zuhörern aufbauen, sondern sich als kompetente Sprecher erleben und so ihr Selbstbewusstsein behalten.
  • Verfahren, die das gesamte Sprechen verändern und so das Stottern umgehen. Die zugrundeliegende Theorie ist, dass Stottern ein erlerntes Verhalten ist, das durch ein Neulernen des Sprechens wieder verlernt werden kann. Entsprechend wird die Sprechweise durch Sprechtechniken z.B. verlangsamt, besonders weich gestaltet oder die Atmung wird verändert. Diese Verfahren führen sehr schnell zu flüssigem Sprechen, das jedoch nicht von selbst stabil erhalten bleibt. Ein intensives Training der Sprechtechniken soll die flüssige Sprechweise aufrechterhalten. Dennoch kommt es sehr häufig zu Rückfällen, mit denen viele Stotternde nicht umgehen können.
  • Psychotherapeutische Verfahren können zu einer Entlastung des Patienten oder seiner Umgebung führen, leiten jedoch nicht dazu an, wie er mit seiner Symptomatik umgehen kann.
  • Alternative Verfahren. Hierzu zählen auch unseriöse Verfahren, die auf bisher nicht belegten Theorien basieren und deren überdauernde Wirksamkeit nicht objektiv nachgewiesen wurde. Vor allem Heilungsversprechen sind ein Hinweis auf unseriöse Therapien.

Stottertherapie kann ambulant oder stationär, einzeln oder in Gruppen, nur mit den Eltern oder zusammen mit dem Kind erfolgen. Stottertherapie kann eine Langzeittherapie sein. Wenn die Behandlung kurz nach Störungsbeginn erfolgt, ist die Behandlungsdauer meist kürzer. Auch wenn nicht in jedem Fall eine Heilung erreicht werden kann, kann nach einer erfolgreichen Behandlung die weitere Entwicklung eines Kindes durch Stottern weniger beeinträchtigt sein, z.B. hinsichtlich Schule und Berufswahl. Nach Therapieende können dann in größeren Abständen Auffrischsitzungen über mehrere Jahre hinweg nötig sein.

Wie ist der Weg zur Therapie?

Sie machen sich Sorgen, weil Ihr Kind stottert, oder Sie wissen noch nicht sicher, ob bei Ihrem Kind Stottern vorliegt:

  1. Mit dem "Interaktiven Stottertest" können Sie herausfinden, ob eine Untersuchung oder eine Behandlung erforderlich ist.
  2. Setzen Sie sich mit der Bundesvereinigung Stotterer-Selbsthilfe [siehe unten] in Verbindung. Dort können Sie Informationsmaterialien und eine Beratung über das weitere Vorgehen erhalten. Kostenübernahme

Hinweise für den Umgang mit Stottern im Alltag

Wenn Ihr Kind über sein Stottern beunruhigt ist, verärgert oder traurig, dürfen Sie es darauf ansprechen und trösten. Ihr Kind braucht das wie bei jeder anderen Erkrankung auch. Die Behauptung, dass Kinder erst dann auf das Stottern aufmerksam werden, ist völlig veraltet.
Eine große Unterstützung für Ihr Kind ist, wenn Sie ihm zeigen, dass Sie vor allem am Inhalt von dem, was es sagen möchte, interessiert sind.
Stottert Ihr Kind stark, wenn es aufgeregt erzählen möchte, können Sie ihm helfen, indem Sie eine ruhige Erzählatmosphäre schaffen, etwa so: "Komm, wir setzen uns gemütlich aufs Sofa und du erzählst mir dann alles in Ruhe!"
Wenn Sie einmal nicht zuhören können, dürfen Sie das deutlich sagen. Es hilft Ihrem Kind aber, wenn Sie hinzufügen, wann Sie wirklich zuhören können.
Informieren Sie Erzieherinnen und Lehrer über das Stottern Ihres Kindes. Die Bundesvereinigung Stottererselbsthilfe bietet gute Informationsmaterialien an.
Gut gemeinte Ratschläge (sprich langsam, hol erst mal Luft und denk nach, bevor du lossprichst, sag es noch mal ordentlich) verderben dem Kind langfristig die Freude am Sprechen und schwächen sein Selbstbewusstsein. Daher sind sie sehr ungünstig, auch wenn sie kurzfristig eine Verbesserung des Sprechens bewirken können.

Stottern und Schule

Stottern ist kein Grund, ein Kind von einer bestimmten Schulform auszuschließen. Lehrer haben jedoch häufig wenig Kenntnisse über Stottern. Das bedeutet, dass Eltern die Lehrer informieren müssen, dass ihr Kind stottert und ggf., welche Konsequenzen das für den Unterricht haben könnte. So darf keiner wegen einer Behinderung benachteiligt werden, auch stotternde Schüler nicht bei der Messung von mündlichen Leistungen. Weitere Informationen zum Thema "Stottern und Schule" finden sich im gleichnamigen Buch der Bundesvereinigung Stotterer-Selbsthilfe.

Literatur

Der Demosthenes Verlag der Bundesvereinigung Stotterer-Selbsthilfe e.V., Köln, Gereonswall 112, 50670 Köln hat einige interessante Bücher herausgebracht:

  • Heap, R.: Wenn mein Kind stottert. Ein Ratgeber für Eltern
  • Schindler, A.: Stottern und Schule. Ein Ratgeber für Lehrerinnen und Lehrer
  • Oertle, H..M.: Therapie des Stotterns. Ein Ratgeber.
  • Natke, B. u.a.: Benni: U-und? Wwwo ist das P-problem? (Comic)
  • De Geus, E.: Manchmal stotter ich eben. Ein Buch für stotternde Kinder von 7 bis 12 Jahren

Außerdem gibt es hier kostenlose Faltblätter für jugendliche und erwachsene Stotternde, Eltern, Lehrer, Erzieherinnen, Kinderärzte, z.T. auch auf türkisch und russisch.

Interessant ist außerdem die Broschüre "Stottern, Kommunikation zwischen Partnern", Band 205. Diese kann gegen Portogebühr bei der Bundesarbeitsgemeinschaft für Behinderte, Kirchfeldstr. 149, 40215 Düsseldorf angefordert werden.

Literatur aus anderen Verlagen

  • Sandrieser, P. und Schneider, P.: Stottern im Kindesalter. Stuttgart, New York: Thieme 2001
  • Weikert, K.: Stottern bei Jugendlichen und Erwachsenen. In: Grohnfeldt: Lehrbuch der Sprachheilpädagogik und Logopädie [Bd.2] 2001

Nützliche Adressen

  • Bundesvereinigung Stotterer-Selbsthilfe e.V.: Tel: 0221/1391106 oder 1391107 Internet: www.bvss.de
  • Interdisziplinäre Vereinigung Stottertherapie e.V.: www.ivs-web.de 
  •  
  • Quelle: www.logopaedie.rwth-aachen.de/patienteninfo/stottern/  

    •  Baumgartner, S.: Stottertherapie im Fortschritt? Bemerkungen zu 60 Jahre Stottertherapie, In: Behindertenpädagogik in Bayern, 4/98, S. 234–242. 

    • Baumgartner: Sprechflüssigkeit. In: Stephan Baumgartner & Iris Füssenich (Hrsg.): Sprachtherapie mit Kindern, 162-253. (1999).

    • Baumgartner: Störungen der Redefähigkeit: Stottern. In: Grohnfeldt: Lehrbuch der Sprachheilpädagogik und Logopädie Bd. 3 (2002).

    • Baumgartner: Stottertherapie im Fortschritt? Bemerkungen zu 60 Jahre Stottertherapie, In: Behindertenpädagogik in Bayern, 41 Jg. 4/98, S. 234–242.

    • Grohnfeldt, M. (Hrsg): Handbuch der Sprachtherapie; Band 4, Störungen der Grammatik. Berlin: Spiess 1991 Hansen/ C. Iven: Stottern bei Kindern im (Vor-)Schulalter – Dynamische Prozesse und individualisierte Sichtweisen in Diagnostik und Therapie In: Sprachheilarbeit 37. 1992.

    • Johannsen & Schulze: Praxis der Beratung und Therapie bei kindlichem Stottern – Werkstattbericht 1993.

    • Johannsen, H.: Stottern bei Kindern. In: Grohnfeldt: Lehrbuch der Sprachheilpädagogik und Logopädie Bd. 2 (2001).

    • Kiese-Himmel, C.: Der gegenwärtige Diskussionsstand zum Thema Stottern. Theorie, Diagnostik und Behandlung. In: Logos interdisziplinär 3/1996, S. 186-193. 

    • Mayer, S.: Stottern bei Kindern. Diskussion über Ursachen und Behandlung. In: Logos interdisziplinär 3/1996, S. 178-184.

    • Rommel, D., Johannsen, H.S. et al.: Psycholinguistische Merkmale des Sprechverhaltens stotternder Kinder... In: Sprache Stimme Gehör 1996, S. 72–79.

    • Sandrieser, P. und Schneider, P.: Stottern im Kindesalter. Stuttgart, New York: Thieme 2001.

    • Weikert, K.: Stottern bei Jugendlichen und Erwachsenen. In: Grohnfeldt: Lehrbuch der Sprachheilpädagogik und Logopädie Bd. 2 (2001).

      Weitere interessante website zum Thema

      medizininfo.de: http://www.medizinfo.de/kinder/probleme/stottern.htm

       

Im Folgenden findet sich eine Zusammenfassung des o.a. Buches von Sandrieser und Schneider (2001), ergänzt und erweitert durch andere Beiträge:

1. Definitionen

Wingate 1964: Stottern ist eine Unterbrechung im Fluss des verbalen Ausdrucks, die charakterisiert ist durch unwillentliche, hörbare oder stille Wiederholungen und Dehnungen bei der Äußerung kurzer Sprachelemente, insbesondere : Laute, Silben und Wörter mit einer Silbe. Diese Unterbrechungen geschehen in der Regel häufig oder sind deutlich ausgeprägt und sind nicht ohne Weiteres kontrollierbar.

Fiedler 1993: Stottern ist eine Störung der Autoregulation des Sprechens. Sie zeigt sich in pathologischen Sprechunflüssigkeiten, die in quantitativen und qualitativen Abweichungen von der Sprechflüssigkeitsnorm bestehen. (Siehe auch „Symptome“)

Bloodstein 1993: Stottern bedeutet unfreiwillige Blockierungen, die Verlängerung von Lauten und die Wiederholung von Lauten. Die Unflüssigkeiten werden vom Stotternden wahrgenommen und antizipiert. Der Stotternde weiß genau, was er sagen möchte, aber er ist in diesem Moment nicht in der Lage, diese eine Wort flüssig zu sprechen, obwohl er problemlos ein anderes Wort sprechen oder dieses Wort zu einem anderen Zeitpunkt sagen könnte.

Baumgartner (1994), nach Starkweather (1987): Reduzieren wir die Komplexität des Stotterns für einen Moment auf das Merkmal der gestörten Sprechflüssigkeit, so definieren wir S. in dem Sinn, dass die betroffene Person weiß, was sie sagen will, dabei aber deutlich die Zeitspanne überschreitet, die man normalerweise zur Produktion einer Äußerung erwarten kann.

Natke (2000): Stottern ist eine Redeflussstörung oder Sprachablaufstörung, bei der es nicht nur gelegentlich, sondern auffallend häufig zu Unterbrechungen im Redefluss kommt. Ein Stotterer weiß genau, was er sagen will, ist aber im Augenblick des Stotterns unfähig, die für die Umsetzung des sprachlichen Inhaltes erforderlichen Artikulationsbewegungen fließend auszuführen.

2. Fakten

(Kiese-Himmel 1996)

  • Häufigkeit: 1-4 % der Bevölkerung

    • Kinder: 4%, davon 80 % Spontanremissionen bis zum 10. Lebensjahr

    • Erwachsene: 0,7 bis 1 %, davon 50 % Spontanremissionen

  • Jungen sind 4mal häufiger betroffen als Mädchen

  • Männliche Verwandte haben ein 3mal höheres Risiko als weibliche Verwandte

  • Der Schweregrad ist weitgehend unabhängig von der familiären Stottergeschichte

  • Stottern entsteht in der Regel zwischen dem 2. und 8. Lebensjahr; der erste Gipfel liegt zwischen dem 3. und 4. Jahr, der zweite um das Schuleintrittsalter. Die Wahrscheinlichkeit der Auftretens nimmt mit zunehmendem Alter ab. In 90 % der Fälle liegt das Entstehungsalter vor dem 7. Lebensjahr.

  • Stottern variiert situativ sehr stark.

  • Stotternde weisen ein 3mal höheres Risiko für Artikulationsstörungen auf als Nicht- Stotternde.

  • Bei Gehörlosen ist die Stotterprävalenz deutlich höher als bei Hörenden.

3. Geschichte

(Baumgartner 1998)

Stottern – Geschichte (Baumgartner 1998)

ï‚® Heute nähert man sich dem Stottern mit personenbezogenen, hypothetischen Bedingungsmodellen. Bei der Suche nach „Wahrheiten“ stieß man schnell an die Grenzen wissenschaftlicher Forschung.

Adolf Kussmaul (1877) Arzt

Albert Gutzmann (1979) Taubstummenpädagoge

Hermann Gutzmann (1924) Spracharzt:

Organgenetische Ursachentheorie

  • Sie sehen Stottern als unwillkürliche, krampfartige Muskelkontraktion in der Atemregulation der Stimmgebung oder der Artikulation. Ihre Methoden ordnen die „Gutzmänner“ systematisch in einen Lehrprogramm und monopolisieren damit lange Jahre den Therapiemarkt („Therapierenner“).

  • Die Methode zielt auf die bewusste Neuprogrammierung des Sprechbewegungsapparates in mehrwöchigen ambulanten Heilkursen. Der Schüler erlernt die einzelnen Teilschritte isoliert über das Vormachen, Nachmachen, Kontrollieren: Atmen, Hauchen, Flüstern, Vokale, Konsonanten, Silben, Wörter, Reime, usw. Behavioristisches Lernen: kleine, hierarchisch geordnete Lernschritte, Verstärkung und Lernen am Erfolg. Suggestive Selbsterziehung. Zudem: allg. Körperertüchtigung, Diät, Klimakur ï‚® komplexes sprachtherapeutisches Geschehen, wenn „nicht nur mechanisch gehandelt“ wird.

  • Zeitgemäße Entsprechung: Stoll (1992): Sprechflüssigkeitstrainingsprogramme ohne/mit PC

  • Vorteile:

leicht vermittelbar, garantiert schnellen Erfolg, gibt Handlungssicherheit, enttabuisiert das Stottern und macht es greifbar/beherrschbar

  • Kritik:

Karl Hansen (1929): Ziel wird durch „geistlosen sprachgymnastischen Drill“ nicht erreicht. Er verweist auf die Zusammengehörigkeit aller Sprachlaute und lehnt das Erlernen des Einzellauts ab. Aber: auch eine Übungstherapie kann psychotherapeutisch wirksam sein!!! Richtiges Sprechen ist Ausgangspunkt für eine eigene Umerziehung. den Abbau der Sprechangst und des Aufbaus komm. Sicherheit.

Psychogenetische Ursachentheorie

  • Hilfsschullehrer Otto Siebert (1933): Er hält mehrere Faktoren für das Stottern verantwortlich: angeborene Anlagen, Diskrepanz zw. sprachlichen und sprechmotorischen Fähigkeiten, psychische Einflüssen ï‚® mehrdimensionales Erklärungsmodell (ähnlich dem Stewart und Turnbull`s 1998)

  • Arzt Theodor Hoepfner (1930): Stottern als Entwicklungsgeschehen, nicht (nur) hirnorganische Krämpfe, sondern „überwertige“ ataktische Bewegungen an sprechmotorischen Bewegungen. Beim Wortschatzspurt korrigiert das Kind autoregulativ motorische Matrix und Sprechbewegungen durch Laut- und Silbenwiederholungen. Bessert sich diese Entwicklungsstottern nicht spontan, liegen die Ursachen für anhaltendes Stottern in den verstärkenden Reaktionen der Umwelt oder in den Zuschreibungen des Kindes selbst.

Siehe auch covert repair–Hypothese (Postma 199?, s.u.)

Albert Liebmann (1914): Stotternde sprechen flüssig, wenn sie abgelenkt sind ï‚® daher, psychische Störung, nicht organisch! Die physiologische Grundstörung – eine Schwächung des Sprachzentrums – überlagert zunehmend eine psychische Störung bedingt durch Reaktionen der Umwelt. Er schlägt – aufgrund vieler Ursacheneinflüsse – eine methodenpluralistischen Weg ein, nicht nur „die“ rationelle Heilmethode der „Gutzmänner“. Sprechanweisungen sind nicht Selbstzweck, sondern dienen der Gewinnung der Erkenntnis: Ich kann ohne Anstrengung ganz von selbst sprechen.

Demand- und Capacity-Modell (Anforderungs-Kapazitätenmodell von Starkweather und Gottwald 1990) ï‚® s.u.

Das stotternde Kind und seine Umwelt stellen Ansprüche an das Sprechen. Die sprachlichen, kognitiven, motorischen und emotionalen Kapazitäten des Kindes sind altersangemessen beschränkt. Wird das Gleichgewicht zwischen den kindlichen Kapazitäten und den Anforderungen gestört, sind gestotterte Unflüssigkeiten bei einer grundlegenden Veranlagung dazu die Folge.

Aller Unterricht ist Therapie:

  • Rothe (1929): Umerziehung, aber ein Einüben atmungsregulativer, stimmlicher oder artikulatorischer Standardmustern in der Gruppe reicht nicht aus, die Erziehung des „ganzen Menschen“ ist entscheidend.

Die sprechübende Behandlung ist relativ methodengeschlossen, die seelische Umerziehung konzeptionell wenig eindeutig. Deshalb ist die Lehrer- und Schülerpersönlichkeit ausschlaggebend für den Therapieerfolg. „Vom Kinde aus...“ Aber: Gefahr eines unreflektierten Methodenpluralismus ist nicht zu vernachlässigen!

  • Rössler (1933): Behandlung bei jeder Gelegenheit im Unterricht. Methode: autosuggestiv Freude und Wille am richtigen Sprechen im Kind wecken, durch Geschichten, spontanes Nachsprechen, lustvolles Lallen, Chorsprechen. Der Lehrer hilft durch sein konsequentes, zielangemessenes Handeln ï‚® Abbau von Minderwertigkeitskomplexen und Sprechhemmungen.

Drittes Reich...

...erstickt aufblühende Eigenständigkeit der Sprachheilschule. Aufmerksamkeit wird danach wieder auf die Altmeister gerichtet.

Heute:

Sicht des Stotterns vor dem individuell geschichteten Gefüge aus Disposition, neuromotorischer Grundauffälligkeit und einer die Sprechflüssigkeit hemmenden unzureichenden linguistischen Kompetenz, in die schließlich emotionale und kognitive Unsicherheiten, verbunden mit geringer Selbstakzeptanz und ungünstigen Aktionen der personalen Umwelt hineinwirken. Heute wird das Stottern datenbezogen im Detail analysiert:

  • subjektive Störungstheorie der betroffenen Person

  • Verarbeitungsstrategien

  • kommunikative Bedeutung des Stotterns

  • Entwicklung, sonstige Auffälligkeiten, Stärken und Schwächen der Person

Erst nach eingehender Diagnose wird von Kind-Therapeut-Bezugsperson das Behandlungsziel und die Methoden ausgehend vom Kind festgelegt. Wichtig ist, was die Betroffenen selbst ändern wollen, nicht, was wir als Therapeuten glauben, dass sie zu ändern wünschen! Am Ende jeden Therapieschritts steht das Feedback für alle. Nicht mehr Heilung, sondern „flüssiges Stottern“ (fluency shaping) steht im Mittelpunkt.

Therapie:

Das Ideal der ganzheitlichen Sprachtherapie wird durch den Aufbau „flüssiger Kommunikationsfähigkeit“ am deutlichsten verwirklicht: Der Therapeut modelliert den weicheren Stimmeinsatz und das verringerte Sprechtempo. Situationsangemessenes Vor- und Nachstrukturieren gemeinsamer Tätigkeiten ziel systematisch auf Sprechleistungen, die der Schüler flüssig bewältigen kann. Ein gezieltes Feedback überzeugt ihn von seiner Sprechfähigkeit. Der Therapeut ermutigt zur Veränderung, sorg für Transparenz der Ziele, leitet zur Selbsthilfe an. Motor der Lernmotivation sind die kommunikativen Absichten des Schülers und das den Sprecherfolg garantierende strukturierte Sprachhandlungsangebot des Pädagogen. Ziel sind offene Dialoghandlungen in realen und inszenierten Situationen. Konstruktive Kommunikation ist gefragt.

Aber: wie Rothe erkannt hat, besteht die Gefahr des beliebigen Methodenpluralismus, dem Laissez-faire-Stil. Durch die Betonung der Sprachautonomie und die relativ geringe Einflussmöglichkeit sprachtherapeutischer Verläufe wird oft vergessen, dass es auch Kinder gibt, die einer gezieltere und systemischen Instruktion bedürften und die Eigenhilfe eben nicht zum selbständigen Sprachlernen nutzen können.

ï‚® engere, sprechübende Verfahren gehören deshalb auch in das Therapieinventar der Sprachheilpädagogik!

ï‚® Die Anstrengung, das Komplexe des Stotterns in seiner Totalität erfassen zu wollen, Sprachtherapie ganzheitlich und systemisch zu gestalten, stößt an Grenzen!!!

ï‚® Therapie ist eine umgrenzte Dienstleistung, die möglichste effektiv, transparent und qualitativ gut auszuführen ist.

4. Entwicklung der Sprechflüssigkeit

Im Laufe der Sprachentwicklung verringern sich zwar die Wiederholungen, dafür nehmen aber die Einschübe zu. Es werden also die Unflüssigkeiten mit zunehmendem Alter zum Vorteil der Sprechers (Sprechplanungszeit) eingesetzt.

Ein normal sprechendes Kind entwickelt sich demnach nicht zum flüssigen Sprecher, sondern zum kompetent unflüssigen Sprecher (Starkweather).

5. Symptome

(Kiese-Himmel 1996)

5.1 Quantitative Abweichung

meint eine Reduzierung der normalen Sprechgeschwindigkeit von etwa 150 bis 200 Silben pro Minute.

5.2 Qualitative Erscheinungsformen

des Stotterns können sprech-sprachlich und nonverbal sein, offen und verdeckt auftreten.

5.2.1 Sprech-sprachliche Abweichungen: Kernsymptomatik

Die Bezeichnung „Kernsymptome“ stammt von Van Riper

Wiederholungen und Blockierungen und Kombinationen aus beiden in unterschiedlicher Häufigkeit und Ausprägung. Alle Stotternde haben sie als Symptome gemeinsam.

5.2.1.1 spannungslose Wiederholungen sprachlicher Einheiten

  • Verzögerungen im Phonations- bzw. Sprecheinsatz

  • Laut-, Silben- Wort und Satzteilwiederholungen

  • Sprechtempoerhöhungen bei Wiederholungen

  • Sprachliche Starter („also“, „na“, „ja“)

  • Flickwörter, Einschübe, sinnlose Vokalisationen wie „äh“, „hm“

  • Ausgefallene Wortwahl

  • Unvollständige oder grammatikalisch falsche Sätze

  • Satzstrukturänderungen während des Sprechens

5.2.1.2 Dehnungen von Lauten und Silben

  • Krampfartige längere Kontraktionen der Artikulationsmuskulatur

  • Spannungsvolle Blockierung der Stimmbildung

  • Lautbildung unter anhaltendem Pressen

  • Atmungsanomalien

5.2.2 nonverbale Auffälligkeiten: Begleitsymptomatik

Von Stotterndem zu Stotterndem unterschiedlich in Form und Ausprägung, da es um das Bemühen geht, die sprech-sprachlichen Auffälligkeiten zu überwinden, zu vermeiden oder sie gar nicht erst aufkommen zu lassen.

Begleitsymptome äußern sich auf den folgenden Ebenen:

5.2.2.1 Emotionen und Einstellungen

  • Psychische Anspannung

  • Frustration

  • Sprechangst

  • Abwertung der Sprechfähigkeit

  • Selbstabwertung als Sprecher

  • Versagensangst

5.2.2.2 Verhalten / Sozialverhalten

  • Vermeiden von Situationen, in denen gesprochen werden muss

  • Abbruch des Blickkontaktes

5.2.2.3 Sprechverhalten

Veränderung der Sprechweise

  • Flüstern

  • Langsam sprechen

  • Schweigen

5.2.2.4 Sprachliche Ebene

  • Vermeiden gefürchteter Wörter

  • Satzabbrüche

  • Einschub von Floskeln, um ein gefürchtetes Wort aufzuschieben

  • Satzumstellungen

  • Stumme Unterbrechungen

  • Starter

  • Flicklaute und -wörter

5.2.2.5 Motorik

  • Physische Anspannung

  • Spannungen im Gesicht

  • Verkrampfungen des Körpers

  • Zittern

  • Mitbewegungen wie

    • Grimassieren (Mitbewegungen der mimischen Muskulatur)

    • Kopfbewegungen

    • Armbewegungen (Mitbewegungen der gestikulatorischen Muskulatur)

5.2.3 Wechselwirkungen von Kern- und Begleitsymptomatik

  • Kernsymptome (KS) führen zur Entwicklung von Begleitsymptomen (BS).

  • Begleitsymptome lösen Kernsymptome aus und verstärken sie.

  • Verschiedene Kern- und Begleitsymptome können sich auch jeweils untereinander beeinflussen, z.B.

    • KS „Teilwortwiederholung“ + BS „Ankämpfverhalten“ ï‚® KS „Blockierung“

    • BS „Sprechangst“ kann KS auslösen

    • KS „Blockierung“ kann in einer neuen Situation beim nächsten Mal das BS „Sprechangst“ auslösen

    • KS „Blockierung eines bestimmten Lautes“ ï‚® BS „Vermeidung dieses Lautes“

Weikert: Stottern kann phasenweise stärker oder schwächer auftreten. Stress und Belastung führen zu erhöhter Muskelanspannung; Stottern wird auch durch Zeitdruck, Unsicherheit, Angst vor Personen/Situationen verstärkt, auch bei körperlicher Anstrengung, Übermüdung, Krankheit, Erschöpfung.

5.2.4 Bezeichnungen

An diesen Beispielen wird deutlich, dass es irreführend ist, die Kernsymptome als „Primärsymptome“ zu bezeichnen und die Begleitsymptome als „Sekundärsymptome“. Damit wird eine einseitige Kausalität und Abfolge suggeriert.

Ebenso sollten nach Sandrieser / Schneider (2001) die Bezeichnungen „tonisches Stottern“ für angespannte Blockierungen und Dehnungen und „klonisches Stottern“ für Wiederholungen vermieden werden. Sie stammen aus einer Zeit, als man noch vermutete, dass es ich beim Stottern um ein cerebrales Krampfleiden handele und als noch von Stotterspasmen die Rede war. In diesen Bezeichnungen vermischen sich Beschreibung der Symptome und Vermutungen über die Entwicklung des Stotterns auf unpräzise Weise.

Heute wird eine differenziertere Diagnose nach Häufigkeit, Dauer, Auftritt von Wiederholungen, gedehnten Prolongationen und Blockaden angestrebt.

Es gibt keine empirischen Ergebnisse, die einen Trend der Abfolge feststellen konnten, z.B. von klonisch nach tonisch oder von Kernsymptomen zu Begleitsymptomen.

5.3 Charakteristika des Stotterns im Kindesalter

(Sandrieser / Schneider 2001, wenn nicht anders angegeben)

5.3.1 Beginn des kindlichen Stotterns

Im 2. oder 3. Lebensjahr (Phase des zunehmenden Gebrauchs längerer linguistischer Einheiten) oder auch im 4. oder 5. Lebensjahr (nachdem die Kinder zuvor schon flüssig, grammatikalisch weitgehend korrekt gesprochen haben) (Johannsen 2001)

zwischen 2. und 4. Lebensjahr am häufigsten, zwischen 6. und 8. sowie 12. und 14., wobei es meist allmählich und nicht abrupt beginnt, anfangs jedoch oft nicht bemerkt wird (Baumgartner 1994)

Baumgartner 1999: mittlerweile auch Fälle abrupten Stotterbeginns nachgewiesen; dynamischer Verlauf und dann progressiver Verlauf zu schwerwiegenderen Symptomen (Grohnfeldt 1992, Schulze u.a. 1991, Baumgartner 1999)

  • 50 % vor dem 4. Lebensjahr

  • 75 % vor dem 5. Lebensjahr

  • 90 % vor dem 6. Lebensjahr

  • nach dem 12. Lebensjahr ist kein Beginn des Stotterns mehr zu erwarten.

5.3.2 Prävalenz

  • 5% aller Kinder haben im Laufe ihrer Entwicklung ein Stotterproblem, das über 6 Monate anhält.

  • 1% aller Kinder entwickelt ein chronisches Stottern

  • In den ersten Jahren ist der Anteil von Jungen und Mädchen gleich groß, dann erfolgt eine Verschiebung. Im Jugendalter stottern 3mal mehr Jungen als Mädchen.

  • Demnach überwinden 60 bis 80 % der Kinder, die als stotternd diagnostiziert wurden, das Stottern, mehr Mädchen als Jungen.

  • Der Anteil erwachsener Stotternder wird auf 1 % geschätzt.


5.3.3 Wechselwirkungen mit der kindlichen Entwicklung

(Sandrieser / Schneider, S. 28-48, superkurze Zusammenfassung!)

5.3.3.1 Sprachentwicklung

  • verzögerte

  • abweichende Sprachentwicklung Stottern

  • schnellere

  • negative Einstellung zum Sprechen

5.3.3.2. Sensomotorik

Wachstum

Anpassung

Stottern

Intuitives Ankämpfverhalten (komplexe Bewegungsabläufe)

stabile Synergismen1

Therapie: Taktil-kinästhetische Wahrnehmung verbessern ï‚® Synergismen unterdrücken

5.3.3.3 Kognition

Normalverteilung der Intelligenz bei Stotternden!

Kognitive Entwicklung ist weiter vorangeschritten als die Fähigkeiten in der Sprechplanung und der Sprechmotorik ï‚® Ungleichgewicht ï‚® Stottern

Die Kognition wirkt dabei stabilisierend (metasprachliche Fähigkeiten + hohe Ansprüche an die Kommunikation ï‚® Selbstkorrektur) ï‚® Entwicklung einer Identität als Stotternder.

5.3.3.4 Emotionen

  • begünstigender Faktor

  • Reaktion auf das Stottern

Primäre Gefühle: Verwirrung, Ärger, Hilflosigkeit, Panik, Wut, Traurigkeit

Ursprüngliche Reaktionen auf das Stottern

Folge: Verlust der Sprechfreude, Ankämpfverhalten

Stottern ï‚® negative Reaktionen der Zuhörer ï‚® Infragestellen der Beziehungsqualität ï‚® negative Selbsteinstellung ï‚® Verdrängung von Gefühlen und Bedürfnissen ï‚® Sekundäre Gefühle

Sekundäre Gefühle: Scham, Schuldgefühle, erlernte Hilflosigkeit, übersteigerte emotionale Selbstkontrolle

Gelernte Reaktionen, die sich selbst verstärken!

Stottern ï‚® von der Sachebene zur Beziehungsebene ï‚® Reaktion: Hilflosigkeit auf beiden Seiten ï‚® Hilfs- und Vorbeugereaktionen sowie Peinlichkeitsreaktionen beim Zuhörer (Stottern = Bedrohung der eigenen Selbstsicherheit) ï‚® normale Unflüssigkeiten bei starken Emotionen und Verunsicherung werden auf den Stotternden übertragen: dieser sei schon verunsichert oder überfordert bei banalen Gesprächen und damit psychisch labil ï‚® Vorurteil

Johnson schlug 1942 Tabuisierung als Therapie vor ï‚® völlig daneben, da unbewusst auf der Beziehungsebene andere Botschaften gesendet werden ï‚® Stotternder fühlt sich belogen

Auf den durch das Stottern entstehenden Zeitverlust reagieren Zuhörer mit Ungeduld.

Das Akzeptieren des Stotterns setzt die Bereitschaft zum Abwarten voraus und keine negative Bewertung der Unflüssigkeiten.

5.3.4 Gesellschaft

Unzulässige Übertragung der Alltagerfahrungen Nichtstotternder auf den Stotternden ï‚® Vorurteile (psychisch labil, gestört...) ï‚® Einfluss auf die Stotternden: a) direkt: Eltern, Ärzte, Pädagogen, b) indirekt: Medien (stereotyp negatives Bild) ï‚® Therapie startet zu spät ï‚® ggf. Chronifizierung

Therapie muss Multiplikatorenfunktion haben (informieren) und es muss ein offensiver Umgang mit dem Stottern gelernt werden. Voraussetzung dafür ist ein Selbstbild als kompetenter Gesprächspartner.

5.3.5 Schule

Stottern

Verhaltensauffälligkeiten Ablehnung negatives Selbstbild

Begleitsymptome Ankämpfen Rückzug

weniger prosoziales Verhalten

mehr Regelverletzungen

Nachlassen schulischer Leistungen

Intervention:

  • Lehrerin als positives Modell

  • Therapie

  • positiveres Selbstbild

  • Wissen über Stottern

5.4 Besonderheiten des Stotterns im Jugendalter

(Weikert)

  • Wahrscheinlichkeit der Spontanremission wird immer geringer, Wahrscheinlichkeit der Chronifizierung steigt

  • Stottersymptomatik und sekundäre Symptome verstärken sich oftmals  Jugendliche und Eltern stehen unter wachsendem Druck

  • Störungsbewusstsein wird in Pubertät immer größer  Jugendliche zeigen sich bekümmert, Leidensdruck steigt

  • Stottern kann zu einem Teil des sich bildenden Selbstkonzeptes werden

  • Der eigenen Person wird mehr Aufmerksamkeit gewidmet, persönliche Wirkung auf andere Menschen und deren Meinung (v.a. Peergruppe) gewinnt an Bedeutung

  • Vergleich mit gleichaltrigen  Bewusstsein man ist nicht „normal“

  • Zunahme und Verstärkung des Stotterns wird als Verlust der Kontrolle über das Sprechen erlebt

  • Schulzeit bleibt in negativer Erinnerung, auch wohlwollende Bemerkungen können als Angriff auf die ganze Person erlebt werden ( Stärkung der Gesamtpersönlichkeit und Einbeziehung des sozialen Umfelds wichtig für Therapie!)

  • Jugendliche argwöhnen, dass sich hinter zugewandtem und positivem Verhalten ihrer Freunde und Klassenkameraden nicht nur Interesse an ihnen als Person verbirgt, sondern Höflichkeit, Rücksichtnahme und Mitleid wegen des Stotterns

  • Häufig wird über Stottern (auch im Elternhaus) nicht offen gesprochen  Tabuthema

5.5 Coping

Wenn eine Person sich auf Störungen einstellen muss und diese zu bewältigen versucht, dann spricht man von Coping2 (Sandrieser /Schneider).

Die dabei eingesetzten Strategien sind Ausdruck kreativen Problemlöseverhaltens.

Funktioneller Coping-Strategien sind das Ziel der Therapie.

6. Abgrenzungsphänomene

6.1 normale/funktionelle Unflüssigkeiten

  • Wiederholung von Wörtern und Satzteilen

  • Satzkorrekturen

  • Satzabbrüche

6.2 Poltern

  • Poltern ist nach Daly und Burnett (1996) eine Störung der Sprach- und Sprechverarbeitung, die zu schnellen, unrhythmischen, sporadisch unorganisiertem und häufig unverständlichem Sprechen führt.

  • Akzelerierungen treten beim Poltern nicht immer auf, Störungen der Formulierung jedoch immer.

  • Beginn meist im Kindesalter, Situationsabhängigkeit wie beim Stottern

  • Verbesserungen bei Konzentration auf die Symptomatik

  • Stottern und Poltern kann gleichzeitig auftreten.

6.3 neurogenes Stottern

  • Zusammenhang mit einer neurologischen Störung

  • In jedem Alter auftretend

  • Ursachen: Schlaganfälle, Schädel-Hirn-Traumata, cerebrale Tumore, neurochirurgischen Operationen, Nebenwirkungen von Medikamenten, Drogenmissbrauch

  • Vorübergehend oder anhaltend

  • Vergleichsweise stabiles Symptommuster, wenig Variation

  • Dehnungen, Wiederholungen und Blockierungen sind nicht nur auf initiale Silben beschränkt, sondern treten auch in mittleren und finalen Silben auf.

6.4 psychogenes Stottern

  • Fast nur im Erwachsenenalter bekannt

  • Stottern tritt plötzlich und in Verbindung mit psychodynamischen Veränderungen auf

  • Ursachen: Konversionsstörungen, Angstneurosen, Depression, Persönlichkeits-störungen, posttraumatische Neurosen

  • Symptomhäufigkeit und –schwere sind kein Unterscheidungsmerkmal für neurogenes und psychogenes Stottern

  • Überwiegend laut- und Silbenwiederholungen, aber auch Dehnungen und Blockierungen bzw. gespannte Pausen.

  • Ankämpfverhalten ist möglich

  • Unflüssigkeiten sind sehr variabel bei Veränderungen der Sprechweise, Lesen, Nachsprechen, Spontansprache

  • Sprechgeschwindigkeit variiert stark

  • Untypische Charakteristika (Telegrammstil, Verlangsamung, außergewöhnliche Muster...)

6.5 spasmodische Dysphonie

  • Früher: „spastische Dysphonie“, auch „ laryngeales Stottern“

  • Symptome ähneln dem Stottern durch die intermittierenden Unterbrechungen im Sprechen und in der situationsgebundenen Variabilität

  • Zentrale Stimmstörung: zentralnervöse Fehlfunktion bei der Kontrolle von Bewegungen. Durch tremorähnliche Bewegungsabläufe und eine Überadduzierung der Stimmlippen kommt es neben einem reduzierten Stimmumfang zur verlängerten Dauer hauchiger Stimmsegmente.

7. Theorien

7.1 flüssiges und unflüssiges Sprechen

Die Sprachflüssigkeit (also die Kompetenz, sich in einer Sprache mit ihren syntaktischen, semantischen und pragmatischen Anteilen ausdrücken zu können) ist bei Stotternden gegeben: sie wissen, was sie wann sagen wollen.

Bei Stotternden ist der Redefluss gestört, also die Sprechflüssigkeit.

Es gibt keine Definition von Flüssigkeit, da sie nicht untersucht wurde. Allein auf der Basis der Untersuchung von Unflüssigkeiten leiten sich die Meinungen ab.

7.2 Starkweathers Konzept des flüssigen und unflüssigen Sprechens

Definition:

Flüssiges Sprechen heißt, mit einem normalen Maß an Kontinuität, Geschwindigkeit und Anstrengung zu sprechen. (Starkweather 1987)

Anstrengung:

Die Leichtigkeit, mit der ein Sprecher seine Äußerung realisiert.

  • mentale Anstrengung zur Planung der Äußerung und

  • muskuläre Anstrengung zur Ausführung des Sprechens

  • Grundlagen für anstrengungsfreies Sprechen: Kontinuität und Geschwindigkeit

Kontinuität:

Aufrechterhaltung des Informationsflusses. Demnach sind funktionelle Unflüssigkeiten akzeptabel, symptomatische nicht.

Die Kontinuität ist abhängig von der Geschwindigkeit.

Geschwindigkeit:

v.a. Geschwindigkeit der Realisation gesprochener Silben. Die Sprechgeschwindigkeit nimmt im Laufe der kindlichen Entwicklung zu. Ein kompetenter Sprecher spricht mit einer Geschwindigkeit von 5-6 Silben pro Sekunde.

Rhythmus:

Die Dauer der einzelnen Laute und damit das Betonungsmuster bestimmen den Rhythmus des Gesprochenen. Der Rhythmus ist ein unterstützender Faktor für die Sprechflüssigkeit: er erleichtert die die Ausführung des Gesprochenen und wirkt damit auch indirekt auf die Anstrengung, was wiederum die Geschwindigkeit erhöht.

Bei verschiedenen Therapieansätzen müssen ggf. Parameter des flüssigen Sprechens (Geschwindigkeit, Kontinuität, Leichtigkeit) vernachlässigt werden, z.B. die Geschwindigkeit, damit eine Verbesserung der Sprechflüssigkeit eintritt.

8. Faktoren, die Beginn und Verlauf beeinflussen

(Sandrieser / Schneider 2001)

Stottern ist ein multifaktorielles Geschehen. Man kann Stotternde nicht klar von Nichtstotternden unterscheiden, da in beiden Gruppen sehr hohe interindividuelle Unterschiede auftreten.

Auch die Ursache-Folge-Problematik scheint ungelöst (Natke 2000): gefundene Effekte können nicht klar als verursachende oder aufrechterhaltende Faktoren oder als Folge identifiziert werden. ï‚® es ist eine idiografische, also den Einzelfall beschreibende Sichtweise nötig (Motsch 1983).

Schulze und Johannsen (1986) schlagen vor, zwischen disponierendem auslösenden und aufrechterhaltenden Faktoren zu unterschieden.

8.1 Disponierende, auslösende und aufrechterhaltende Faktoren

Disponierende Faktoren begünstigen das Auftreten von Stottern, auslösende Faktoren spielen eine Rolle beim Beginn des Stotterns und verantwortlich für die Aufrechterhaltung des Stotterns sind stabilisierende, chronifizierende und generalisierende Faktoren.

Die im weiteren genannten Faktoren haben einen Einfluss auf die Entstehung und Aufrecherhaltung des Stotterns, soviel ist gesichert. Der Einfluss eines Faktors im Einzelfall und das Zusammenwirken der Faktoren ist jedoch unbekannt.

Viele Faktoren können sowohl auslösend als auch aufrechterhaltend wirken.

8.1.1 Disponierende Faktoren  

Veranlagung zum Stottern, ggf. aus mehreren Faktoren (die genaue Bedeutung der Veranlagung ist noch unerforscht)

  • genetische Faktoren: familiäre Disposition (Jungen eher als Mädchen, eineiige Zwillinge eher als zweieiige beide, größtes Risiko (36 % ) haben Söhne stotternder Mütter)

  • zentrale Koordination / Rückmeldekreise: Die sensorische, propriozeptive und auditive Rückmeldung beim Sprechen ist bei Stotternden abweichend. Rückmeldung ist aber im Spracherwerb wichtig ï‚® Begünstigung für Sprechunflüssigkeiten, auch Aufrechterhaltung.

Die Entwicklung der Rückmeldung ist gekoppelt an die Entwicklung der Wahrnehmung, der Motorik und der kognitiven Entwicklung.

  • Hemisphärendominanz / Lateralität

Bei stotternden gibt es beim dichotischen Hören mehr Menschen mit Linksohrvorteil ï‚® Rechte Hemisphäre bevorteilt

Linkshändige Kinder habe eine geringere Chance der Remission.

Problem: Lateralitätsentwicklung (v.a. das Hören betreffend) ist im Grundschulalter noch nicht abgeschlossen, das Stottern aber schon manifestiert ï‚® Untersuchungen sind mit Vorsicht zu genießen

 disponierende Faktoren, die sich selbst entwickeln, können zu verschiedenen Zeitpunkten wirksam werden.

  • Sprachentwicklung

Die Entwicklung flüssigen Sprechens ist eng mit der Sprachentwicklung verknüpft. Eine Untergruppe stotternder Kinder zeigt Auffälligkeiten der Sprachentwicklung (z.B. späterer Sprechbeginn). Verschiedene Faktoren der Sprachentwicklung können vermutlich sowohl disponierend als auch auslösend und aufrechterhaltend sein.

  • Intelligenz und Persönlichkeit

Es sind keine Intelligenzunterschiede zu finden. Auch Persönlichkeitsstruktur und emotionale Entwicklung sind unauffällig ( nicht generelle schüchterner, sensibler...)

Auffälligkeiten im Selbstbild und in der emotionalen Entwicklung sind Folge und nicht Ursache des Stotterns.

  • Erziehungsstil und Interaktionsverhalten

Es lässt sich keine disponierende Wirkung feststellen.

8.1.2 Auslösende Faktoren

Da sie den beginn des Stotterns betreffend, werden sie fälschlicherweise oft als Ursache genannt. Häufig genant:

    • Beginn des Kindergartens

    • Geburt eines Geschwisterkindes

    • Intrafamiliäre Konflikte

    • Krankenhausaufenthalt.

Achtung: ein Ereignis reicht nicht aus, es sind disponierende Faktoren nötig ï‚® Eltern die Schuldgefühle nehmen!!!

Die Erhebung der auslösenden Faktoren ist umso schwieriger, je später. Zuverlässigkeit der Angaben ist aufgrund des Kausalitätsbedürfnisses von Eltern in Frage gestellt werden.

Traumata können Auslöser sein, wobei erfrage werden muss, welche aufrechterhaltenden Faktoren noch nachwirken. Bei Verdacht auf eine nicht genanntes Trauma3 muss eine psychologischen Abklärung in Erwägung gezogen werden.

8.1.3 Aufrechterhaltende Faktoren

  • Disponierende und auslösende Faktoren können eine aufrechterhaltende Funktion bekommen.

  • Aufrechterhaltende Faktoren entstehen aber auch aus der Reaktion des Kindes und der Umgebung auf das Stottern entstehen.

  • Auch vom Stottern unabhängige Faktoren beim Kind (z.B. Perfektheitsanspruch) und in der Umgebung (z.B. überfordernde Alltagsbedingungen) können das Stottern aufrecht erhalten.

  • Ein Ungleichgewicht zwischen sehr unterschiedlichen Entwicklungszuständen in verschiedenen Bereichen (Asynchronizität) kann aufrechterhaltender Faktor sein.

Achtung: Veränderungen der aufrechterhaltenden Faktoren können das Stottern verringern oder stabilisieren ï‚® therapiebegleitende Verlaufsdiagnostik ist nötig!

8.1.3.1 Die aufrechterhaltende Wirkung von Umgebungsfaktoren

Symptome sind situationsabhängig: linguistische Anforderungen und Kommunikationsdruck beeinflussen die Unflüssigkeit.

Allgemeine Ursachen für umweltbedingte Belastungen (Prins 1983)

  • Fehlende Planung und unregelmäßiger Ablauf von Alltagsaktivitäten in der Familie (z.B. bezüglich Mahlzeiten, Freizeitverhalten, Schlafen);

  • Wiederkehrende Verhaltensabläufe, die unvorhersehbare Hektik und Zeitdruck hervorrufen (z.B. Bereitschaftsdienst eines Elternteils; ungünstiges Planungsver­halten bei Alltagsroutinen wie Aufstehen, Mahlzeiten etc.)4;

  • Ständige Änderungen in der Zusammensetzung der familiären Konstellation (z.B. häufiger Besuch von Verwandten, unregelmäßige Anwesenheit der Eltern durch die Art der Berufstätigkeit der Eltern ...);

  • Häufig wiederkehrende Erwartungen und Ansprüche, die ein Kind nicht erfüllen kann (z.B. nicht bewusste oder bewusste Überforderung des Kindes in motori­scher, sprachlicher, kognitiver, sozialer und emotionaler Hinsicht, etwa durch den ständigen Vergleich mit einem älteren Nachbarskind oder den Idealvorstel­lungen eines Elternteils);

  • Insgesamt geringe Zuwendungszeit und zu geringe ausschließliche Zuwendung für das Kind (z.B. chronische Unterlegenheit des unflüssigen Kindes in einem Konkurrenzverhältnis zum Geschwisterkind ...);

Kommunikative Stressoren (Prins 1983)

  • Ungünstiges Zuhörerverhalten auf Seiten der Eltern und anderer Familienmit­glieder. Damit sind in der unmittelbaren Interaktion wirksame kommunikative Stressoren gemeint, wie zum Beispiel der häufige Entzug oder Abbruch des Zuhörerverhaltens (,,listener loss"), häufige und unvermittelte Unterbrechung der Rede (,,interruption"), das permanente Unter-Zeitdruck-Setzen des Gesprächspartners (,,hurrying"), was verbal und mimisch-gestisch vermittelt werden kann, aber auch durch die eigene Art des Kommunikationsverhaltens wirksam wird.

  • Ungünstige elterliche Sprach- und Sprechcharakteristika, z.B. hohes Sprechtem­po, unangemessen hohes linguistisches Niveau, ungeduldige, ungehaltene Dikti­on, sehr lautes oder sehr leises Sprechen.

  • Unablässiges Fragen und belehren des Kindes („questioning“), ständiges Einflechten von „Lernspielen“ in natürliche Spielsituationen, z.B. verbales Bombardement; Fragen, die von Kind komplexe Antworten erfordern

  • Konkurrenzhafte Sprecherumgebung, z.B. verbal dominante familiäre und außerfamiliäre Bezugspersonen und Spielkameraden.

Problematisch ist, dass durch solche Faktoren die Eltern und die Umgebung eine hohe Verantwortung bekommen und ihnen eine negatives Interaktionsverhalten unterstellt wird.

Schulze 1989: Unterschiedliche Verhaltensweisen zwischen Familien stotternder und nicht-stotternder Kinder konnten nicht festgestellt werden. Der einzige Unterschied war eine sehr unterschiedliches Sprechtempo der Eltern ï‚® Kinder bekommen sehr unterschiedliche Modelle hinsichtlich der Sprechgeschwindigkeit.

Meyers und Freeman 1985: Mütter stotternder Kinder sprechen mit allen Kinder schneller als Mütter nichtstotternder Kinder. Zudem sprechen sie mit stotternden Kindern schneller als mit nichtstotternden. ï‚® erhöhtes Sprechtempo als Folge der Kommunikation mit dem stotternden Kind.

Meyers und Freeman 1985: Flüssig sprechende Kinder werden von ihren Müttern seltener unterbrochen als unflüssige (emotionale Reaktion auf Stottern) ï‚® Verunsicherung des Kindes.

Kloth et al. 1999: Kinder remittieren häufiger, wenn die Mütter nach dem Auftreten des Stotterns ihren Gesprächsstil nicht in eine direktivere Art umwandelten, sondern einen indirekten Stil beibehielten. (Achtung, Studie nicht repräsentativ!)

Meyers 1991: Das Stottern bei Vorschulkindern ist weniger empfindlich für Zuhörerreaktionen als das Stottern bei Schulkindern. Situative Faktoren scheinen sich stärker auszuwirken als der Interaktionsstil des Gesprächspartners.

Fazit: Es gibt keine allgemeinen Merkmale einer stotterspezifischen Umgebung. Im Einzelfall können die genannten Faktoren jedoch auf den Verlauf des Stotternseinwirken. ï‚® Die Umgebungsfaktoren sind im Einzelfall relevant, es darf aber nicht den Eltern und der Umgebung die Verantwortung gegeben werden.

8.1.3.2 Aufrechterhaltung durch dysfunktionale Coping-Strategien

Coping-Strategien führen oft zu sich selbst verstärkenden Kreisläufen und können zu immer auffälligeren Verhaltensmustern führen. Ehemals hilfreiche Verhaltensweisen werden dabei auch ohne Nutzen aufrecht erhalten.

Nach Van Riper (1986) wird das Ankämpfverhalten durch das darauffolgende Flüssigsprechen „belohnt“ und stabilisiert.

Dass nach einem Stotterereignis oft flüssig weitergesprochen wird, lässt sich vielleicht darauf zurückführen, dass dach einer starken Anspannung eine Entspannung folgt5.

Denkbare Lernmodelle:

  • Angst vor dem nächsten Stottern ï‚® physiologische Reaktionen ï‚® Erhöhung der Stotterhäufigkeit ï‚® Angst war berechtigt ï‚® Stabilisierung der Angst

  • Angst vor dem Stottern ï‚® Erwartungen über Auslöser ï‚® Vermeidung ï‚® Ausnahme: Stimulus kann nicht gemieden werden ï‚® erhöhte Angst vor dem Stottern ï‚® Erhöhung der Stotterhäufigkeit ï‚® Vermeidung ist notwendig ï‚® Vermeiden stabilisiert die Angst

Fazit: Aufrechterhaltende Faktoren müssen in die Therapieplanung mit einbezogen werden!

8.2 Hypothesen über das Stottern

(Rommel / Johannsen 1996, Mayer 1996, Sandrieser / Schneider 2001)

8.2.1 Diagnosogene Hypothese

Wendell Johnson 1942 (aus Sandrieser / Schneider)

„Stottern entsteht nicht im Mund des Kindes, sondern in den Köpfen der Eltern!“

Stottern entsteht, wenn die Umgebung des Kindes auf normale Unflüssigkeiten in der Sprachentwicklung falsch reagiert und das Kind daraufhin Anstrengung und Verkrampfung zeigt.

Aber: Studien zeigen, dass sich schon frühe Unflüssigkeiten im Sprechen stotternder Kinder von denen nicht stotternder Kinder unterscheiden, zudem konnte kein Zusammenhang zwischen einer Erwartungshaltung der Eltern bzw. allgemeinem Druck und Stottern festgestellt werden. Es findet eine Verantwortungszuschreibung statt und es wird negiert, dass schon kleine Kinder früh ihre Unflüssigkeiten wahrnehmen.

Zudem ist nicht festzustellen, wann das Kind die Eltern beeinflusst und wann die Eltern das Kind.

8.2.2 Kontinuitätshypothese

Oliver Bloodstein 1970 (Schüler Johnsons) (aus Sandrieser / Schneider)

These: Die Anzahl der Unflüssigkeiten ist ausschlaggebend für die Diagnose „stotternd“ oder „nicht stotternd“. Die Häufigkeit von Unflüssigkeiten ist in einem Kontinuum angesiedelt (von normalen Unflüssigkeiten bis zum Stottern der Stufe 4 (s.u.)) mit einer „Grauzone“ in der Mitte des Kontinuums mit unsicherer Einschätzung. Auch die Qualität wird berücksichtigt.

Interner Faktor: Wenn das Kind Sprechen als schwierig empfindet, verstärkt dies die Anstrengung und provoziert neue Stotterereignisse.

Vierphasiges Modell der Entwicklung des Stotterns: Phasen sind nicht als Stufen zu sehen und nicht voneinander zu trennen. Die Altersangaben können schwanken.

Phase 1: bis zum Alter von 7 Jahren. Variierende und fluktuierende Unflüssigkeiten. V.a. Silbenwiederholungen, teils mit Begleitverhalten. Noch keine negative Einstellung zum Sprechen.

Phase 2: ab dem Vorschulalter, typischerweise im Grundschulalter, teils bis zum Erwachsenenalter bleibend. Chronisches Stottern mit beständigen, situationsgebunden variierende Ausprägung. Der Stotternde empfindet sich selbst als Stotternder, reagiert aber wenig darauf (kein Vermeide- oder Ankämpfverhalten).

Phase 3: ab dem 8. Lebensjahr, kann bis ins Erwachsenenalter andauern. Vorhersehbare Symptome, schwierige Laute oder Wörter; Vermeideverhalten. Keine generalisierte Angst und kein Vermeiden von Sprechsituationen.

Phase 4: an dem 10. Lebensjahr: volle Ausprägung des Stotterns. Ankämpf- und Vermeideverhalten, Angst vor dem Stottern: Stottern ist ein ernsthaftes Problem. Dieser Phase sollte vorgebeugt werden!

8.2.3 Vier Entwicklungsverläufe (Tracks)

Charles Van Riper 1970er Jahre (Kollege Johnsons) (aus Sandrieser / Schneider)

Eltern erkennen, ob Unflüssigkeiten symptomatisch oder funktionell sind. Die diagnosogene Theorie kann also nicht stimmen.

Vier Entwicklungsverläufe des Stotterns:

Verlauf 1: Zu Beginn große interindividuelle Unterschiede in Qualität und Quantität der Unflüssigkeiten. Tendenz, dass Wiederholungen in Dehnungen übergehen. Gradueller beginn und periodisches Auftreten. Reaktionen: Sprechangst, Sprachanstrengung, Vermeideverhalten. Betraf die Hälfte von 300 Fallbeispielen.

Verlauf 2: Frühes auftreten der Unflüssigkeiten, Sprachentwicklungsverzögerung, seltene Dehnungen und Blockierungen, häufig erhöhte Sprechgeschwindigkeit (Polterkomponente?). Reaktionen weniger ausgeprägt als in Verlauf 1.

Verlauf 3: Sehr plötzliches Auftreten der Symptome (z.B. Trauma), Blockierungen mit sofortigen Reaktionen (Anspannung, Sprechanstrengung, Frustration). Trend zu mehr Wiederholungen, aber ausgeprägte Sprechangst und Vermeideverhalten.

Verlauf 4: Auffälligkeiten entsprechen nicht den typischen Stottersymptomen. Plötzliche Phrasen- und Satzwiederholungen mit geringer Variabilität, wenige Vermeideverhalten, Anspannung, Frustration. Form kann spät einsetzen, auch im Erwachsenenalter.

Probleme: geringe Anzahl der Fallberichte (300), retrospektive Betrachtung (z.T. mit später projizierten Kausalzusammenhängen), neuere Daten schließen Möglichkeit 3 aus (monokausal). Nur zwei Drittel der Verläufe lassen sich auf diese vier Varianten zurückführen.

Aber: Es scheint Subgruppen mit unterschiedlichen Verläufen zu geben. Die Umwelt mit ihren Reaktionen bestimmt nicht allein den Verlauf.

8.2.4 Anforderungs-Kapazitäts-Modell

Woodruff Starkweather und Sheryll Gottwald 1990 (aus Sandrieser / Schneider)

Stottern tritt dann auf, wenn die Anforderungen von außen oder die Anforderungen, die das Kindes selbst an sich stellt, die Fähigkeit des Sprechers übersteigen; auf der kognitiven, linguistischen, motorischen und / oder sozialen / emotionalen Ebene.

Es sind also zwei Seiten von Bedeutung: Anforderungen und Fähigkeiten.

Flüssiges Sprechen kann sich dann entwickeln, wenn ein Gleichgewicht zwischen Anforderungen und Kapazitäten vorliegt. Ein Ungleichgewicht führt zu unflüssigem Sprechen. Hierbei kann das für flüssiges Sprechen kritische Profil von Anforderungen und Fähigkeiten individuell sehr unterschiedlich sein. Die selben Anforderungen können ein Kind unflüssig werden lassen, während das andere keine Veränderungen im Redefluss zeigt.

Das Verhältnis von Anforderungen und Fähigkeiten verändert sich ständig in Abhängigkeit von Reifungsprozessen und Umgebungsfaktoren. So werden vorübergehende oder endgültige Remissionen erklärt.

Ein länger anhaltendes Ungleichgewicht begünstigt das Entstehen von Stottern und ein anhaltendes Ungleichgewicht fördert die Chronifizierung.

Die Phase zwischen 2 und 8 Jahren, in der Stottern meist entsteht, kann als sensible Phase für den Erwerb der Sprechflüssigkeit verstanden werden: die Fähigkeit zum flüssigen Sprechen reagiert am empfindlichsten auf interne und externe Anforderungen.

Selbst gestellte Anforderungen können aus denen der Umwelt resultieren, aber auch darin begründet sein, dass sich das Kind bei der Auseinandersetzung mit dem nächsten Entwicklungsschritt (Zone der nächsten Entwicklung) an der Grenze der Selbstüberforderung bewegt.

Das Modell ist nicht empirisch abgesichert und die Trennung der Faktoren etwas künstlich. Trotzdem ist es für die Entwicklung von Therapieschwerpunkten im Bereich Risikofaktoren und für die Ableitung neuer Fragestellungen in der Stotterforschung gut geeignet.

8.2.5 Antizipationshypothese

Oliver Bloodstein 1995 (aus Rommel /Johannsen)

Bestimmte Merkmale von Wörtern führen zu bestimmten Situations- und / oder Merkmalen von Personen zu einer Erwartung (Antizipation) des Stotterns. Daher werden Sprechunsicherheiten und Ängste aufgebaut. Das Kind versucht deshalb, durch diverse Strategien das Stottern zu verhindern. Das führt dann zum Stottern.

8.2.6 Covert-Repair-Hypothese

Postma und Kolk 199??? (aus Rommel /Johannsen, Mayer)

Während der normalen Sprachproduktion überwachen Feedback-Schleifen die Produktion, um schnell Irrtümer in der Planung und Ausführung der Sätze zu erkennen und zu korrigieren.

Verdeckte („covert“) Irrtümer in der Artikulationsplanung könnten im Prozess der Selbstkorrektur zum (offenen und wahrnehmbaren) Stottern führen: Der Sprecher entdeckt seinen Fehler längst schon vor der Artikulation der Äußerung und versucht ihn zu korrigieren, was zu den typischen Unterbrechungen des Redeflusses führt. Bildhaft: Bei Stotternden leuchtet zu oft ihre innere Kontrollleuchte „Achtung Irrtum“ auf; sie reagieren automatisch mit Verzögerungen oder neuen Sprechansätzen

Die Irrtümer in der Artikulationsplanung könnten ausgelöst werden durch eine verzögerte Aktivierung der Elemente im phonetischen Plan, die zu verlängerten Perioden der Unsicherheit in der Auswahl der Zielelemente führen. Stottern wird also möglicherweise dann ausgelöst, wenn Unsicherheit zu der gleichzeitigen Aktivierung mehrerer Zielelemente führt, von denen manchmal das falsche Element ausgewählt wird. Der „innere Monitor“ entdeckt diese Irrtümer und reagiert darauf mit Verzögerungen und neuen Anläufen.

Die CRH könnte nach Yaruss und Conture (1996) eine Erklärung dafür sein, dass im verlauf der Behandlung phonologischer Störungen manche Kinder plötzlich verstärkt unflüssig sprechen: sie stellen im Verlauf der Behandlung fest, dass sie Fehler machen und korrigieren sich offen oder versteckt, was zu Unflüssigkeiten führt.

8.2.7 linguistische Komplexität

Weiss und Zebrowski 1992 (aus Mayer)

Ein wichtiger linguistischer Faktor sind lange, komplexe Äußerungen, die höhere Anforderungen an die Sprechmotorik stellen („kommunikative Verantwortung“). Durch die Versuche, solche Äußerungen zu sprechen, tragen die Kinder selbst zu ihrem Stottern bei.

8.2.8 „response time latency“

Winslow und Guitar (aus Mayer)

Die RTL ist die Zeit zwischen dem Ende der Äußerung eines Sprechers und dem Beginn der Äußerung des nächsten Sprechers. Das Stottern der Kind nahm ab, wenn sich die Familienmitglieder mehr Ruhe und Zeit zum Planen einer Äußerung nahmen.

8.2.9 Fragmentierungshypothese

Oliver Bloodstein 1993 (aus Rommel /Johannsen)

Junge stotternde Kinder wiederholen meist das erste Wort oder auch einen Satzteil, weil sie merken, dass „alles auf einmal“ zu schwierig wäre und scheitern würde.

Aber: Die Unflüssigkeiten treten auch bei den jüngsten stotternden Kindern nicht primär am Satzanfang auf und die Unflüssigkeiten entsprechen nicht den Unflüssigkeiten, wie sie bei jungen stotternden Kindern von Bloodstein berichtet werden.

8.2.10 Breakdown-Hypothese

Oliver Bloodstein (aus Rommel /Johannsen)

Das Stottern ist Ausdruck oder Folge eines Zusammenbruchs des für die Sprechsteuerung zuständigen physiologischen Systems.

Aber: Kinder zeigen Unflüssigkeiten an Stellen, die nicht im Rahmen der physiologischen Wahrscheinlichkeit vorausgesagt werden würden.

8.2.11 Informationsgehalthypothese

Taylor 1966 (aus Rommel /Johannsen)

Auf Inhaltswörtern oder ungebräuchlicheren Wörtern oder bei Wörtern, wo der Vorhersagegehalt der weiteren Äußerung gering ist, wird häufiger gestottert.

Aber: widerlegt, da viele Stotternde genau wissen, was sie sagen wollen und diese Variable sich mit anderen (Wortlänge, Position im Satz, usw.) überschneidet.

ï‚® Mit Ausnahme der Satzlänge gibt es keine Konstanten bei den Stottervariablen. Dies deutet darauf hin, dass keine spezifische Hypothese zur Ätiologie und Verlauf Allgemeingültigkeit beanspruchen kann, sondern mehrdimensional in Subgruppen oder singulär beschreibend gedacht werden muss.

8.3 Prognosefaktoren

Ergebnisse der Längsschnittstudie von Johannsen et al.:

  • je jünger das Kind zu Beginn, desto eher die Gefahr zur Chronizität

  • je länger die Latenz zw. Anfang der Symptomatik und erster Vorstellung, umso schlechter die Prognose

  • bei Jungen allgemein ungünstigere Prognose, genetische Faktoren spielen keine Rolle

  • nicht Blockierungen, sondern Teilwortwiederholungen Zeichen für ungünstige Prognose

  • hohe sprachliche Fähigkeiten günstig, Gefahr für SLI-Kinder

  • Je komplexer die Eltern mit dem Kind sprechen, desto höher die Gefahr eines chronischen Verlaufs

9. Vermutungen zu den Ursachen

(Kiese-Himmel 1996)

Die Ursachen des Stotterns und seine Verlaufsdynamik sind nach wie vor unbekannt. Aber man kennt inzwischen viele Bedingungen, die mit dem Stottern in Zusammenhang stehen.

Die Ätiologie von pathologischen Sprechunflüssigkeiten ist grob zu unterteilen in

  • Einen organischen / neurophysiologischen / genetischen Komplex

  • Die Verfestigung von Entwicklungsunflüssigkeiten und

  • Einen psychosozialen Komplex.

Baumgartner:

Die Ursache des Stotterns ist nach wie vor nicht bekannt. Die Vermutung darüber berühren heute vorwiegend zwei Erklärungsdimensionen:

  • die linguistische mit Enkodierschwierigkeiten auf einer oder mehrerer Sprachebenen

  • die neurolinguistische mit ihrer Annahmen, Stottern sei z.B. eine Folge autoregulativ gestörten Sprechens, unzureichender cerebraler Dominanz, einer genetischen prädisponierten Sprachschwäche und/oder Ausdruck einer motorischen Koordinationsstörung.

Im Konzept der kontinuierlichen Entwicklung des Stotterns kann das betroffene Kind wahrscheinlich auf der Basis prädisponierter neurolinguistischer und linguistischer Reifungs- und Lernprozesse, die für seine Sprechflüssigkeit benötigten Kapazitäten nicht in ausreichendem Maße bereitstellen.

Stottern entwickelt sich aus einem individuell geschichteten Gefüge aus

  • Disposition,

  • neurolinguistischer Grundauffälligkeit,

  • unzureichender linguistischer Kompetenz, emotionalen und kognitiven Unsicherheiten, verbunden mit

  • geringer Selbstakzeptanz und ungünstigen spracherzieherischen Aktionen der personalen Umwelt.

9.1 organische / neurophysiologische Ursachen

Studien zur regionalen Hirndurchblutung, ereigniskorrelierten Potentialen, dichotischem Hören und anderem haben ergeben, dass zumindest einige Stotternde zerebral für sprachliche Funktionen anders organisiert sind als Flüssigsprecher: die rechte Hemisphäre irritiert durch Überaktivierung die linke.

Aber auch „voice-onset-time“, „voice-initiating-time“ und „speech-initiating-time“ sind verlängert.

Stotternde haben häufiger und mehr stotternde Verwandte als Nichtstotternde. Es gibt nach Poulos und Webster (1993) zwei klinische Populationen erwachsener Stotternder: 1) eine Gruppe mit genetischer Prädisposition und 2) eine Gruppe mit hirnorganischer Belastung, die auf ein nicht voll entwickeltes Gehirn trifft, also mit zentralnervöser Prädisposition.

Kinder stotternder Mütter stottern viel häufiger als Kinder stotternder Väter. Stottert ein eineiiger Zwilling, ist das Risiko, dass der zweite ebenfalls stottert bei 70%. Bei zweieiigen Zwilligen liegt das Risiko bei 32%, bei anderen Geschwistern nur noch bei 20%.

Bei zweieiigen Zwillingen stottern nicht immer beide, demnach ist die Ausprägung von Umgebungs- und Erfahrungsfaktoren abhängig, die bislang nicht identifiziert werden konnten. Ungeklärt ist auch, nach welchem genetischen Modell Stottern vererbt werden könnte.

9.2 Verfestigung von Entwicklungsunflüssigkeiten

Stotternde Kinder haben zu nur 30 % (Riley und Riley 1980) keine anderen Auffälligkeiten (Feinmotorik, Artikulation, auditive Speicherung, Aufmerksamkeit...). Deshalb werden auch entwicklungsbedingte Leistungsschwächen als Prädisposition für Stottern vermutet.

Während der Sprachentwicklung treten bei vielen Kindern Phasen unflüssigen Sprechens im Sinne von Laut-, Silben- und Wortwiederholungen auf, sogenannte physiologische Iterationen. Sie verlieren sich meist von selbst wieder. Korrigieren oder bestrafen die Eltern das Sprechverhalten ihrer Kinder, wird die unbewusste Selbstregulierung des Sprechens gestört. Das Kind versucht nun, sein Sprechen willkürlich zu steuern und tonische Symptome treten auf.

Damit beginnt der pathologische Prozess: die Ansprüche / Erwartungen des Kindes und / oder der Umwelt übersteigen die altersgemäßen Fähigkeiten. ï‚® Anforderungs-Kapazitäts-Modell nach Starkweather et al. 1990: Für flüssiges Sprechen ist zu jedem Entwicklungszeitpunkt ein Gleichgewicht zwischen sprechmotorischen, kognitiven, linguistischen und sozial- emotionalen Kapazitäten und Anforderungen erforderlich. Ist das Gleichgewicht gestört, tritt Stottern auf.

9.3 psychosozialer Ursachenkomplex

9.3.1 Neurosentheoretische Erklärungsansätze

Es gibt wenig empirische Hinweise darauf, dass Stottern als eine emotionale oder neurotische Störung zu klassifizieren wäre. Es ist belegt, dass keine grundlegenden Differenzen in der Persönlichkeitsstruktur von Stotternden und sog. Normalsprechenden bestehen. Auch die Annahme einer generellen Psychopathologie der Eltern ließ sich nicht halten. Auch die sozialen Bedingungen in Familien von stotternden und nichtstotternden Vorschulkindern unterscheiden sich nicht.

9.3.2 Lernpsychologische Erklärungsansätze

Individualpsychologische Erklärungsansätze betonen den „Krankheitsgewinn“ des Stotternden, auch die funktionale Theorie von Bindel (1996) betrachtet das Stottern von Vorschulkindern als individuell sinnvolles Verhalten. Ein weiterer Grund zur Aufrechterhaltung des Stotterns ist auch das Verharren in der Gewohnheit. Stottern als gelerntes verhalten ist möglich, ebenso Stottern durch Modell-Lernen.

9.3.3 Stottern als Rollenkonflikt

Der Erklärungsansatz „Stottern als doppelter Annäherungs-Vermeidungs-Konflikt“ meint nach Sheehan (1970) den Wunsch, zu sprechen und die Angst, zu stottern sowie den Wunsch, zu schweigen und die Angst, sprechen zu müssen. Aus dieser Ambivalenz ist die situative Variabilität des Stotterns abzuleiten.

9.4 Vorläufiges Fazit

Die ausschließliche ätiologische Bedeutung psychosozialer Faktoren bleibt vorerst ebenso wie die organischen / neurophysiologischen Faktoren ungeklärt; zumindest gelten monokausale Erklärungen des Stotterns für überholt.

Heute werden Forschungsergebnisse in dynamisch-integrative Modellvorstellungen eingeordnet, die der interindividuellen Variabilität des Störungsbildes eher gerecht werden wollen.

Beispiel dafür:

9.5 Modell von Johannsen und Schulze (1993) für das frühkindliche Stottern

Modell der interaktiven Beziehung zwischen den Faktoren für Entstehung, Aufrechterhaltung und Verlauf des kindlichen Stotterns.

Demnach erwirbt jeder Stotternde seine Störung individuell-biografisch durch unterschiedliche Faktoren, die sich in drei Bündel zusammenfassen lassen.

Stottern wird in seiner Entstehung, seiner Ausprägung, seiner Aufrechterhaltung und seinem Verlauf von multiplen, koexistierenden und miteinander interagierenden Faktoren organisch /physiologischer, psychosozialer, psycholinguistischer Natur beeinflusst.

Die Frage nach der Gewichtung dieser verschiedenen Faktoren sowie nach der Art und Stärke ihrer interaktiven Verknüpfung kann bisher nicht beantwortet werden. Die Schwierigkeit besteht nämlich darin, dass die Faktoren-Konstellationen nicht stabil bleiben, sondern sich mit der Zeit verändern.

Stottern ist symptomatologisch wie auch ätiologisch kein homogenes Störungsbild, sondern nach Johannsen und Schulze ein multifaktorielles / multimodales Phänomen, das grundsätzlich oder zumindest momentan nur für den Einzelfall oder für bestimmte Subgruppen erklärt werden kann.

9.6. Prävention

(Sandrieser / Schneider Seite 61)

Die WHO nimmt eine Dreiteilung vor: Störung, Beeinträchtigung und Behinderung.

Auf das Stottern übertragen:

  • Störung: unfreiwillige Unterbrechungen des Sprechablaufs

  • Beeinträchtigung: Flüssig zu sprechen, obwohl Sprachflüssigkeit gegeben

  • Behinderung: Nachteile, z.B. in mündlichen Noten, Berufswahl...


Präventionsmaßnahmen richten sich danach:

  • Primäre Prävention: Vermeidung der Störung (derzeit kaum möglich, da Ursache nicht bekannt.)

  • Sekundäre Prävention: möglichst frühe Erkennung mit dem Ziel, nachfolgende Probleme und Behinderungen zu vermeiden (am erfolgversprechendsten)

  • Tertiäre Prävention: Verminderung der Behinderung: Therapie, in der die Begleitsymptome abgebaut und der Umgang mit dem Stottern erleichtert wird

Ressourcen müssen auch bedacht werden (Aktivität, Partizipation, Kontext)!

10. Diagnostik

10.1 Allgemeines

Die Diagnostik des Stotterns ist heute durch die Analyse der Sprechunflüssigkeiten möglich, lässt aber keine Rückschlüsse auf eine Chronifizierung zu.

Die Diagnostik gliedert sich in zwei Teile (Sandrieser / Schneider):

  • symptomorientierte Diagnostik (liegt Stottern vor?) und

  • weiterführende Diagnostik (Abschätzung der Risikofaktoren, Therapie notwendig?)

Dabei müssen drei Bereiche abgedeckt werden:

  • Stottersymptomatik

  • Psychische Reaktionen auf das Stottern

  • Risikofaktoren

Ziele der Diagnostik:

  • Hat das Kind ein behandlungsbedürftiges Stottern? ï‚® Anamnese und Screening

  • Welche sind die psychischen Reaktionen des Kindes und der Umwelt, welche auslösenden und aufrechterhaltenden Faktoren können identifiziert werden?

ï‚® Erstellung einer einzelfallorientierten Therapieplanung

Betrachtet werden müssen

  • disponierende,

  • auslösende und

  • aufrechterhaltende Faktoren, die

  • physiologisch,

  • psychologisch und

  • linguistisch

sein können und sich überschneiden können.

Fehldiagnosen

Eine frühe Identifizierung ist nötig (Onslow 1992), damit so früh wie möglich mit der Therapiebegonnen werden kann. Dabei schadet eine falsche positive Identifizierung („Kind stottert“) einem Kind nicht (andererseits beeinflussen Beratung und Therapie das Selbstbild des Kindes negativ und es entsteht ein nicht gerechtfertigter therapeutischer Aufwand), eine falsche negative Identifizierung („Kind stottert nicht“) jedoch schon: längere, mühsamere Behandlung, größere Wahrscheinlichkeit des Scheiterns oder eines Rückfalls.

Die drei Bereiche der Diagnostik von Stottern im Kindesalter

Achtung, sie überschneiden sich!

Bereich Stottersymptomatik ï‚® zeitweilige Unfähigkeit, kontinuierlich und ohne motorische oder mentale Anstrengung zu sprechen

  • Quantität der Unflüssigkeiten

  • Qualität der Unflüssigkeiten

  • Dauer und Verlauf des Stotterns

Bereich psychische Reaktionen ï‚® welche auslösenden oder aufrechterhaltenden Wirkungen haben Risikofaktoren?

  • Einstellungen und Gefühle

    • zum Sprechen und Stottern, z.B. Scham, Schuldgefühle, Tabuisierung zu sich selbst und als Sprecher, z.B. Selbstabwertung als Sprecher

    • zu Gesprächspartnern

  • Daraus resultierende Verhaltensweisen, z.B. Vermeideverhalten, Turn-Taking-Verhalten

Bereich Risikofaktoren

  • Defizite und Stärken in relevanten Fähigkeiten, z.B. Sprachentwicklung, pragmatische Fähigkeiten

  • Umgebungsfaktoren

allgemein belastende oder unterstützende Umgebungsfaktoren

sprach- und sprechspezifisch überfordernde Umgebungsfaktoren

Reaktionen aus der Umgebung auf Stottern

Diagnosestellung

  • Beginnendes Stottern: Beginn liegt weniger als 12 Monate zurück

  • Chronisches Stottern: Stottern besteht länger als 12 Monate

Diese Unterscheidung macht keine Aussagen über den Schweregrad, eine Therapieindikation oder die Remissionswahrscheinlichkeit! Der Schweregrad muss näher beschrieben werden (z.B. 12 % der Wörter unflüssig, 9 Wiederholungen, ½ Sekunde Dehnung, Begleitsymptome:...).

10.2 Ablauf der Diagnostik

Abkürzungen:

  • (SES: Sprachentwicklungsstörung)

  • QBS: Qualitative Beschreibung der Stottersymptomatik

  • RKS: Reaktion auf kommunikative Stressoren

  • RSU: Reaktionen auf Stottern des Untersuchers

  • SLS: Screening List for Stuttering

  • SPI: Stuttering Prediction Instrument

  • SSI: Stuttering Severity Instrument


Telefongespräch bei der Anmeldung

Ziel: Vorbereitung der Erstdiagnostik

Inhalt: Einholen von Informationen zur Planung der Diagnostik Vermittlung von Informationen über das Vorgehen

ggf. anamnestischen Fragebogen zuschicken

ggf. Audio- oder Videoaufnahme zu Hause erstellen lassen

Erste Sitzung

Ziel: Datenerhebung zur Ermittlung der Behandlungsbedürftigkeit

Inhalt: Kurzanamnese mit Eltern und Kind

Erhebung der Sprechproben mit Audio- oder Videoaufzeichnung

Spielsituation mit der Therapeutin bzw. je nach Alter und Kontaktbereitschaft Spielsituation mit Eltern und Kind

Beobachtungen zum Entwicklungsstand und Kommunikationsverhalten

Beobachtungen von Reaktionen auf kommunikative Stressoren (RKS)

Beobachtung der Reaktionen des Kindes auf Thematisieren und

Pseudostottern der Untersucherin (RSU)

Ggf. Lesen bei Schulkindern, wenn als problematisch bezeichnet

Auswertung der ersten Sitzung

Fragestellungen:

- Liegt behandlungsbedürftiges Stottern vor?

- Müssen weitere Diagnostiksitzungen stattfinden?

- Wie sind die Eltern zu beraten?

Bereiche:

Stottersymptomatik

  • Interpretation der anamnestischen Daten

  • Auswertung der Sprechproben

  • Ermitteln des Schweregrads von Stotterns durch SPl oder SSl Einschätzung der Qualität des Stotterverhaltens (QBS)


Psychische Reaktionen auf Stottern

- Auswertung von Anamnese und RSU

Risikofaktoren

- Interpretation von Verhaltensbeobachtungen hinsichtlich der Reaktionen auf kommunikative Stressoren (RKS)

Interpretation von Verhaltensbeobachtungen hinsichtlich aufrechterhaltender Mechanismen und Risikofaktoren wie Sprachentwicklungsstand, pragmatische Fähigkeiten, allgemeiner Entwicklungsstand

Zweite Sitzung

Ziel: Datenerhebung zur Ermittlung der Behandlungsschwerpunkte

Inhalt: Anamnesegespräch mit den Eitern zu noch ausstehenden Fragestellungen


Auswertung der ersten beiden Sitzungen:


Fragestellungen:

  • Liegt behandlungsbedürftiges Stottern vor?

  • Welches therapeutische Vorgehen ist sinnvoll?

  • Wie ist die weiterführende Diagnostik zu gestalten?

  • Welche Therapieschwerpunkte sind zu erkennen?

  • Wie sind die Eltern zu beraten?

Bereiche:

Stottersymptomatik

- Interpretation der anamnestischen Daten

psychische Reaktionen auf Stottern

- Auswertung der Anamnese

Risikofaktoren

  • Interpretation der Anamnese hinsichtlich der Reaktionen auf kommunikative Stressoren (RKS)

  • Interpretation der Anamnese hinsichtlich aufrechterhaltender Mechanismen und Risikofaktoren

Befund

Stellungnahme zu Diagnose, Behandlungsbedürftigkeit und weiterem Vorgehen

Wenn kein Stottern vorliegt, wird an dieser Stelle die Diagnostik beendet

Weiterführende Diagnostik

Nach der Erstdiagnostik können hypothesengeleitet unterschiedliche Fragestellungen für eine weiterführende Diagnostik auftreten. Behandlungsbegleitend können in individueller Reihenfolge verschiedene Verfahren ausgewählt werden.

- Beobachtung der Reaktionen auf kommunikative Stressoren (RKS)

- Diagnostik des Sprachentwicklungsstandes

- Lesen

- In-Vivo Diagnostik

- Interaktionsanalyse

- Anamnese mit Erzieherinnen und Lehrerinnen

- Einschätzung des motorischen, kognitiven und emotionalen Entwicklungsstandes

- Einschätzung der familiären und innerpsychischen Situation (projektive Verfahren, Anamnese, Angstfragebogen für Schüler)

Bei Auffälligkeiten kann es nötig werden, die Zusammenarbeit mit Kinderpsychologinnen oder anderen Fachleuten aufzusuchen.

Differentialdiagnostik (Kiese-Himmel 1996):

Kriterien zur Unterscheidung von entwicklungsgemäßen Unflüssigkeiten und beginnenden pathologischen Unflüssigkeiten:

  • Dauer der Sprechunflüssigkeiten (länger als 6 Monate)

  • Verlauf von Sprechunflüssigkeiten (von Kloni zu Toni)

  • Art der Symptomatik (Dehnungen mit Tonhöhen- oder Lautstärkeanstieg und Überwiegen von Blockierungen mit sichtbarer Anstrengung)

  • Deutliche Reaktionen des Kindes auf seine Sprechunflüssigkeiten (z.B. Redeabbruch oder nonverbale Auffälligkeiten)

  • Sprachentwicklungsstand und Mundmotorik sind auffällig

  • Einstellungen der Eltern (Stottern sei gefestigt)

  • Andere stotternde Familienmitglieder

Je mehr von diesen Gefahrensignalen zutreffen, desto geringer ist die Wahrscheinlichkeit einer Spontanremission und desto dringlicher die Therapieindikation.

Kurzzusammenfassung: Diagnostik

1. Kontaktaufnahme: Anamnese des Entwicklungsstandes, Einstellung der Eltern zum Kind mittels Checkliste, häusliche Kassettenaufnahme um wichtige Infos zum kommunikativen Verhalten in verschiedenen Alltagssituationen zu erfahren

2. Erstgespräch mit den Bezugspersonen: Fragen zum Grund der Kontaktaufnahme und über generelle Lebensbedingungen; Frage nach der Entwicklung und Ausprägung der Stottersymptomatik; Fragen nach Gefühlen, Verhalten und sozialer Einbindung des Kindes in die Familie, subjektive Theorien zur Stottersymptomatik

3. Videoaufnahme einer Spielsituation in der Praxis (ohne Therapeuten, mit Bezugspersonen): wichtige Infos über das Stottern, bei gemeinsamer Auswertung mit Bezugspersonen weitere Einsichten in subjektive Theorien des Stotterns, Reaktionsbeobachtungen, Eltern-Kind-Interaktion

4. Allgemein sprachtherapeutische Befunderhebung: Sprachentwicklungsstand (expressiv und impressiv), quantitative und qualitative Beschreibung der Symptomatik, Motorik, Stimme, kognitive und sensorische Entwicklung

(Screeningverfahren von Johannsen & Schulze 1988)

Entscheidung für direkte oder indirekte Therapiemaßnahmen, inhaltliche Schwerpunktsetzung und Anknüpfungspunkte für die Elternarbeit (Johannsen & Schulze 1986/92)

wichtige Prinzipien: Ressourcenprinzip, Prozessdiagnostik, Mehrdimensionalität, Transferfähigkeit in Alltagssituationen, hypothesen- u theoriegeleitetes Vorgehen

10.2 Verfahren

Abkürzungen:

  • (SES: Sprachentwicklungsstörung)

  • QBS: Qualitative Beschreibung der Stottersymptomatik

  • RKS: Reaktion auf kommunikative Stressoren

  • RSU: Reaktionen auf Stottern des Untersuchers

  • SLS: Screening List for Stuttering

  • SPI: Stuttering Prediction Instrument

  • SSI: Stuttering Severity Instrument

10.2.1. Verfahren zur Ermittlung des Behandlungsbedarfes

Ziel: Entscheiden, ob das Kind gegenwärtig stottert. Situationsgebundenheit beachten!

10.2.1.1 SLS: Screening List for Stuttering

Fragebogen zur Differentialdiagnose, ob Stottern vorliegt. (Riley 1979, 2000)

Ziel: Laien sollen diagnosebedürftige Sprechunflüssigkeiten und behandlungsbedürftiges Stottern erkennen können

Methode: Eltern kreuzen Fragebogen an zu Art, Häufigkeit und Dauer der Symptomatik sowie Reaktionen des Kindes und des Umfeldes. ï‚® Punktwerte ï‚® Gesamtpunktwert ï‚® unter 7: keine Diagnostik nötig, über 12: wahrscheinlich Stottern, 7-12: Wiederholung des Screenings in drei Monaten

Bewertung: Gut geeignet für Laien (Kinderarzt, Erzieherin)

Dauer: Durchführung: 5-10 Minuten, Auswertung 2 Minuten

10.2.1.2 SPI: Stuttering Prediction Instrument

Instrument zur Einschätzung, ob Stottern vorliegt (Riley 1981, deutsch von Sandrieser), Muster in Sandrieser / Schneider!!

Ziel:

  • Differentialdiagnostik zwischen normalen Sprechunflüssigkeiten und Stottern im Kindesalter (3-8 Jahre)

  • Einschätzung des Schweregrades des Stotterns (quantitative und qualitative Erfassung der Unflüssigkeiten)

  • Erfassung der Veränderungen bei Therapieverlaufskontrollen

Methode: Anamnestischer Fragebogen, der nach Befragung der Eltern durchgeführt wird und Analyse einer Spontansprechprobe von 100 Wörtern hinsichtlich Häufigkeit und Qualität der Unflüssigkeiten. ï‚® Rohwerte ï‚® Tabelle zum Ablesen des Schweregrades

Bewertung:

 Schnell und brauchbar zur Differentialdiagnostik und zur Feststellung des Schweregrades.

 Die Prognose scheint unsicher zu sein.

Dauer: Durchführung 20 Minuten, Auswertung: 20 Minuten.

10.2.1.3 Anamnese

Anamnestischer Elternfragebogen und Anamnesebogen (Sandrieser 2000), Protokollbögen in Sandrieser / Schneider!!!

Ziel:

  • Klärung des Auftrags der Eltern an die Therapeutin

  • Erfassung von relevanten Daten zur Vorgeschichte und zur derzeitigen Situation

  • Erfassung von Daten, die für die Planung der Diagnostik von Bedeutung sind, z.B. Hinweise auf Defizite, die spezielle Diagnostikverfahren erfordern

Methode: Eltern füllen zuhause Fragebogen aus und senden ihn an die Praxis ï‚® kann schon in die Planung der Diagnostik einbezogen werden. Erstdiagnostik als gelenktes Anamnesegespräch mit beiden Eltern und ggf. Kind. ï‚® Überprüfung erster Hypothesen.

Bewertung:

 Gewinnung von Informationen zu den Bereichen Stottersymptomatik, psychische Reaktionen und Risikofaktoren, Besonderheiten des Kindes werden in Erfahrung gebracht.

 Weitere Untersuchung des Kindes ist nötig!

10.2.2 Verfahren zur Ermittlung der Störungsschwerpunkte

10.2.2.1 Bereich Sprech- und Stotterverhalten

  • Analyse der Unflüssigkeiten (Häufigkeit und Qualität) und

  • Beurteilung weitere Komponenten (Leichtigkeit, Geschwindigkeit und Kontinuität)

ï‚® Transkription eines Videoausschnittes ist am detailliertesten, aber sehr aufwändig.

ï‚® Bei Real-Time-Diagnostikverfahren werden die Symptome parallel zu Spielsituationen oder Videoaufnahmen gezählt (vor allem quantitativ und nur wenig qualitativ). Zeitaufwand geringer, aber Übung erforderlich.

ï‚® Erste Versuche mit computergestützten Verfahren werden derzeit erstellt6. Momentan noch keine Hilfe.

ï‚® Notwendig ist in jedem Fall eine repräsentative Sprechprobe, aufgrund der Situationsabhängigkeit ggf. auch mehrere aus verschiedenen Kontexten.

Erhebung der Sprechprobe:

  • Dokumentation der Sprechprobe mit einer Videoaufnahme (nonverbale Ebene mit erfasst), notfalls Audioaufnahme.

  • Aufzeichnung der Sprechprobe im Therapieraum oder zu hause durch die Eltern.

  • Interaktionspartner für das Kind können Therapeutin, ggf. Eltern und / oder Geschwister sein.

  • Mögliche Aufgabenstellungen: freies spiel oder eine motivierende vorgegebene Aufgabe, nacherzählen einer Bildergeschichte, Spiel mit Einsatz von kommunikativen Stressoren durch die Therapeutin.

  • Die Spielmaterialien sollten zur besseren Verständlichkeit der Aufnehme nicht zu viel Lärm machen.

10.2.2.1.1 Real-Time-Diagnostikverfahren

Normiertes Vorgehen bei der Auswertung von Spontansprache simultan zum Sprechen des Patienten.

Ziel: Zeitökonomische quantitative und qualitative Beurteilung der Redeunflüssigkeiten in der Spontansprache.

Methode: geäußerte Silben und Stottersymptome werden während der Videoaufnahme / Spielsituation protokolliert. Z.B. drei Sprechproben mit je 100 Silben. Silben, Dehnungen, Blockierungen und Teilwortwiederholungen werden in Raster eingetragen. Die Stotter-Rate (Prozentsatz der Summe der Symptome bezogen auf die Gesamtzahl der Silben) und das vorherrschende Stottermuster (Prozentsatz der einzelnen Symptomarten bezogen auf die Gesamtzahl der Symptome) werden ermittelt.

Bewertung:

 zeitökonomisch und aussagekräftig, leichte Durchführbarkeit im Therapieverlauf ï‚® Veränderungen in der Symptomatik ersichtlich. Eine Version wird im SSI und SPI verwendet.

 Training7 und erhöhte Aufmerksamkeit des Auswertenden erforderlich, PC-Auswertung noch nicht verfügbar.

10.2.2.1.2 SSI: Stuttering Severity Instrument

Instrument zur Einschätzung des Schweregrades des Stotterns (Riley 1972, 1994). Deutsche Bearbeitung von Schneider (1998), Protokollbögen in Sandrieser / Schneider!!!

Ziel:

  • Ermittelung des Schweregrades der Stotterns bei Kindern ab 4 Jahren , Jugendlichen und Erwachsenen

  • Qualitative und quantitative Erfassung der Unflüssigkeiten

  • Reliable Dokumentation zur Erfassung von Veränderungen (Therapieverlaufskontrolle)

  • Erhebung der Veränderungen von Unflüssigkeiten in unterschiedlichen sprachlichen Aufgabenstellungen (Therapieplanung).

Methode: Quantitative Real-Time-Analyse der symptomatischen. Qualität der Blockierungen und eventuell auftretender psychischer Begleiterscheinungen wird separat eingeschätzt.

Teil A: Ermittlung der Stotterhäufigkeit für Leser8

  • Sprechprobe A1: Konversation: Patient soll drei Minuten erzählen (mind. 150 Wörter) ï‚® Bandaufnahme

  • Sprechprobe A2: Lesen: Text (entsprechend der Lesefähigkeit) von 125 Wörtern soll laut vorgelesen werden ï‚® Bandaufnahme

  • Auswertung: vom Band, für flüssige Wörter wird ein Punkt aufgeschrieben, für Unflüssigkeiten (stumme oder hörbare Dehnungen, Laut- und Silbenwiederholungen. Ganzwort- und Satzteilwiederholungen und Umformulierungen werden nicht gezählt) ein Strich, mind. 125 Wörter.

  • Ermittlung des Rohwertes für Stotterhäufigkeit für Teil A: jeweils 100 Wörter ab Wort (ohne die ersten 25!) aus Konversation und Lesen werden ausgezählt. Anzahl der symptomatischen Unflüssigkeiten entspricht dem Prozentsatz der gestotterten Wörter in Bezug auf die Gesamtzahl der Wörter. ï‚® Zuordnung von Rohwerten für Konversation und Lesen ï‚® Gesamtrohwert zwischen 0 und 18.

Teil B: Ermittlung der Stotterhäufigkeit für Nichtleser

  • Sprechprobe: Bildergeschichte erzählen, danach freies Gespräch. ï‚® Bandaufnahme mit mind. 150 Wörtern.

  • Auswertung: vom Band, nur die Situation mit der größeren Stotterhäufigkeit wird ausgewertet, für flüssige Wörter wird ein Punkt aufgeschrieben, für Unflüssigkeiten ein Strich

  • Ermittlung des Rohwertes für Stotterhäufigkeit für Teil A: jeweils 100 Wörter ab Wort (ohne die ersten 25!) aus Konversation und Lesen werden ausgezählt. Anzahl der symptomatischen Unflüssigkeiten entspricht dem Prozentsatz der gestotterten Wörter in Bezug auf die Gesamtzahl der Wörter. ï‚® Zuordnung eines Rohwertes für Bildergeschichte ODER Gespräch ï‚® Gesamtrohwert zwischen 0 und 18.

Teil C: Ermittlung der Dauer der drei längsten Symptome (für alle Patienten)

  • Beurteilungen anhand der Beobachtungen während der Sprechprobe

  • Dauer der drei längsten Wörter wird durch Einkreisen der Wortnummer markiert (ab 10 Sekunden mit Sekundenangabe).

  • Mittlere Dauer ï‚® Gesamt-Rohwert

Teil D: Ermittlung des motorischen Begleitverhaltens (für alle Patienten)

  • Beurteilungen anhand der Beobachtungen während der Sprechprobe

  • Vier Bereiche werden beurteilt: auffällige Geräusche, auffälliges Grimassieren, auffällige Kopfbewegungen, auffällige Extremitätenbewegungen.

  • Ausprägung wird jeweils auf einer Skala von 0-5 markiert

  • Rohwerte der vier Bereiche werden addiert ï‚® Gesamtrohwert

Teil E: Ermittlung des Schweregrades des Stotterns (für alle Patienten)

  • Die drei Rohwerte (Stotterhäufigkeit, Dauer, motorisches Begleitverhalten) werden addiert ï‚® Gesamtrohwert ï‚® Zuordnung von Prozenträngen und Schweregrad-Äquivalenten.

Bewertung:

 nach sorgfältiger Einarbeitung ermöglicht der test eine reproduzierbare, standardisierte Diagnostik und die Möglichkeit einer zuverlässigen Therapieverlaufskontrolle

 keine Aussagen zu Gütekriterien

Dauer: Durchführung mind. 20 Minuten. Auswertung mind. 30 Minuten. Audio-Aufnahme erforderlich.

10.2.2.1.3 QBS: Qualitative Beschreibung der Stottersymptomatik

Verfahren zur Einschätzung der Qualität der symptomatischen Unflüssigkeiten (Schneider 1997), Protokollbogen in Sandrieser / Schneider!!!

Ziel:

  • Ableitung von Hypothesen über Defizite beim Sprechablauf und über die Funktion von qualitativen Veränderungen der Kernsymptomatik

  • Nachweis von qualitativen Veränderungen der Symptomatik im Therapieverlauf

Methode: mehrere Sprechproben werden ausgewertet (Video, Tonband, direkte Beobachtung), die Beobachtungen zu verschiedenen Kriterien werden auf einer Skala von 1-7 eingeschätzt und die prozentuale Häufigkeit ermittelt. Damit wird eine Ableitung der Hintergründe für qualitative Veränderungen möglich, oft sind auch mehrer Erklärungen möglich.

Bewertung: Basis ist die Annahme, dass sich verschiedene qualitative Veränderungen von Redeunflüssigkeiten auf bestimmte Defizite im Sprechverhalten oder auf Coping-Strategien zurückführen lassen.

 Qualitative Veränderungen (z.B. weniger Ankämpfverhalten, mehr Vermeideverhalten) lassen sich im Therapieverlauf gut dokumentieren. Therapieziele und Methoden können abgeleitet werden. Mehrere Sprechproben werden der Fluktuation des Stotterns gerecht.

 nicht normiert

Dauer: Durchführung bei therapiebegleitender Beobachtung 10-15 Minuten. Auswertung 5 Minuten.

10.2.2.1.4 Lesen – Situationsabhängigkeit von Stottern

Überprüfung der Auswirkungen von lesen auf das Stottern (Schneider 1999) ab der zweiten Klasse. Lesetext in Sandrieser / Schneider!!

Weitere Verfahren zur Situationsabhängigkeit: siehe Bereich Risikofaktoren

Ziel:

  • Beurteilung des Sprechens und der Symptomatik bei weitgehendem Ausschluss von sprachlichen Vermeidestrategien

  • Beobachtung der Reaktion auf die Anforderungen

  • Informelle Einschätzung der Lesefähigkeiten

  • Hinweise auf die Einstellung zum Lesen

Methode: Befragung des Kindes zu seiner Einstellung zum lauten Lesen in der Schule. Dann lautes Vorlesen der ersten 25 Wörter des Textes. Wenn keine größeren Schwierigkeiten: Vorlesen des ganzen Textes. Abweichungen von Text und andere Auffälligkeiten werden unter das betreffende Wort geschrieben (Punkte und Striche). Nah dem Lesen soll Kind Geschichte kurz nacherzählen. Leseverweigerung wird akzeptiert, aber die Hintergründe erfragt. Die Anzahl der Symptome wird auf die Gesamtzahl der Wörter bezogen in Prozent ausgedrückt. Die Häufigkeit der verschiedenen Symptomarten wird festgehalten.

Bewertung:

 Standardisiertes Verfahren mit qualitativer und quantitativer Auswertung. Kann als Untertest des SSI für Kinder durchgeführt werden. Ergebnisse sollten durch ein Gespräch mit der Lehrerin ergänzt werden. Wen die Symptomatik beim Lesen häufiger und schwerer auftritt als in der Spontansprache, kann dies ein Hinweis auf angstbesetzten lautes Lesen sein, es könne Laut- und Wortängste bestehen und / oder in der Spontansprache erfolgreich vermieden wird oder auf eine Sprechweise beim Lesen (z.B. hohes Tempo), die Stottern wahrscheinlicher macht.

Dauer: Durchführung 10 Minuten. Auswertung 5 Minuten.

10.2.2.2 Verfahren zum Bereich psychische Reaktionen auf Stottern

Emotionale und kognitive Reaktionen auf das Stottern können aufrechterhaltend wirken. Auf ihnen beruht auch das Ankämpf-, Aufschub- und sprachliche Vermeideverhalten. Diese Verhaltensweisen werden aus praktischen Gründen jedoch im Bereich Sprech- und Stotterverhalten erfasst.

Kinder äußern ihre Einstellungen zum Sprechen und Stottern bereitwilliger als vermutet: ab 5 Jahren ist ein Interview möglich. Fragebögen sind frühestens ab der fünften Klasse geeignet, da Leseprobleme sonst das Ergebnis verfälschen können.

Für die Therapieplanung brauchbare Ergebnisse erhält man anhand der Verhaltensbeobachtung von Reaktionen auf das Pseudostottern der Untersucherin.


RSU – Reaktionen auf Stottern des Untersuchers

Screeningverfahren zur Ermittlung von Reaktionen auf das Stottern des Untersuchers (Schneider 1999), Protokollbogen in Sandrieser / Schneider!!!

Zwei unterschiedliche Versionen (RSU1 und RSU2), die abhängig von Entwicklungsstand des Kindes und der Akzeptanz der Eltern für das Verfahren durchgeführt werden können. Beide Versionen können auch beim gleichen Kind durchgeführt werden.

Ziel:

  • Hinweise auf psychische Reaktionen auf Stottern aus Verhaltensbeobachtungen des Äußerungen des Kindes,

  • Hinweise auf die Fähigkeit des Kindes zur Selbst- und Fremdwahrnehmung von Stottern und zur Einschätzung der Eltern über die Selbstwahrnehmung ihres Kindes

  • Einschätzung der Unterschiede in der Wahrnehmung und Bewertung des Stotterns durch das Kind und die Eltern.

  • Einschätzung etwaiger Mechanismen der Tabuisierung in der Familie

RSU1

Ziel:

Ermittlung von Verhaltensweisen, die Aufschluss geben über

  • Art und Ausmaß der Reaktionen,

  • Unterschied der Selbstwahrnehmung des Kindes zur Einschätzung der Eltern über dessen Selbstwahrnehmung,

  • Bereitschaft, eigenes und fremdes Stottern zu thematisieren

Methode:

Grundprinzip: Die Untersucherin stottert während des Gesprächs ganz nebenbei und beobachtet die Reaktionen des Kindes.

Durchführung: Vorbereitende Besprechung des Verfahrens mit den Eltern ï‚® Verständnis und Unterstützung beim Beobachten.

Vom Beginn des Kontaktes mit dem Kind an und über mehrere Sitzungen zeigt die Untersucheringelassen in etwa jedem zweiten Satz langsame, anstrengungsfreie aber deutliche Teilwortwiederholungen, Dehnungen oder Blockierungen.

Bei Kindern mit Ankämpfverhalten kann man dieses in deutlich abgeschwächter Form zeigen (keine Mitbewegungen!) und sich dabei selbst kommentieren („das Wort kam jetzt aber schwer raus!“).

Wenig sprechen, damit das Kind zeit hat, auf das Stottern zu reagieren!

Bei älteren Kindern kann das Stottern angekündigt werden: „Du wirst merken, dass meine Wörter manchmal nicht gleich rauskommen.“.

Dem Kind gegenüber werden seine Reaktionen nicht bewertet, könne jedoch aufgegriffen werden, z.B. Kind: „Hör auf damit, das heißt nicht A-a-auto, sprich richtig!“ Untersucherin: „Dich ärgert es, wenn meine Wörter nicht richtig rauswollen“.

Häufig reagieren Kinder erst nach mehreren Sitzungen und / oder zunächst nur gegenüber den Eltern.

Äußerungen des Kindes und Berichte der Eltern werden protokolliert.

Bewertung:

 wichtige Grundlage für einzelfallorientiertes therapeutisches Vorgehen. Oft zeigt sich, dass sich auch junge Kinder (entgegen der Vermutungen der Eltern) schon mit dem Stottern beschäftigen. Kann jederzeit im Therapieverlauf wiederholt werden. Zeitaufwand ist durch die therapiebegleitende Durchführung gering.

 setzt voraus, dass Untersucherin lockeres und selbstverständliches Pseudostottern beherrscht. Manchmal muss mehrere Sitzungen auf eine Reaktion des Kindes gewartet werden.

RSU2:

Einsatz etwa ab dem Grundschulalter, entwickelt in Orientierung an Larsson 1996

Ziel:

Ermittlung von Verhaltensbeobachtungen, die Auskunft geben über

  • Fähigkeit zur selbst- und Fremdwahrnehmung von Stottern,

  • Unterschiede in der Wahrnehmung und Bewertung von Symptomen durch das Kind und die Eltern,

  • Grad du Mechanismen der Tabuisierung der Teilnehmer

Methode:

Grundprinzip: Untersucherin weist direkt auf ihr Stottern hin und befragt das Kind zu seinem eigenen Stottern.

Durchführung: Wird im Erstkontakt mit dem Kind und den Eltern im rahmen der Anamnese zum Thema Sprechen durchgeführt. Die Untersucherin zeigt verschieden Arten, wie Wörter „stecken bleiben“ können und befragt das Kind, ob diese Art auch bei ihm vorkommt. Man beginnt mit lustigen Arten des Stotterns, die das Kind nicht zeigt. Nach der Antwort des Kindes wird die Einschätzung der Eltern erfragt. Wenn das Kind unkooperativ ist, wird die Untersuchung abgebrochen. Wenn sich ein Elternteil sehr beschämend verhält, später noch einmal mit dem Kind allein durchführen.

Es wird die Reihenfolge der besprochenen Symptome notiert sowie die Antworten des Kindes und der Eltern.

Bewertung:



 kein standardisiertes Verfahren. Setzt voraus, dass die Untersucherin lockeres und gelassenes Pseudostottern trainiert hat und die Angst abgebaut hat, dem Kind mit ihrem Stottern zu nahe zu treten.

Dauer: Durchführung 10-20 Minuten. Auswertung unter 10 Minuten.

10.2.2.3 Verfahren zum Bereich Risikofaktoren

Grundlage: Modell von Anforderungen und Fähigkeiten.

Risikofaktoren können auslösend wirken, Bewältigungsmöglichkeiten einschränken und auch eine Reaktion auf Stottern sein.

Die Eltern werden befragt und orientierende Verhaltensbeobachtungen während der Diagnostik durchgeführt. Beobachtungen aus dem Erstkontakt müssen weiterverfolgt uns ggf. bestätigt werden.

Eine genauere Untersuchung bei betreffenden Fachtherapeutinnen (Psychologin, Krankengymnastin) kann bei Bedarf eingeleitet werden.

10.2.2.3.1 Pragmatische und kommunikative Fähigkeiten

Verschiedene Verfahren: „Communication Assessment“ von Latham und Mills (1997), „Pragmatic Rating Scale“ von Anderson-Wood und Smith (1997).

Auch eine Interaktionsanalyse kann Informationen geben.

Freie Beobachtung der pragmatischen und kommunikativen Fähigkeiten

Ziel:

  • Ermittlung von Risikofaktoren hinsichtlich der kommunikativen und pragmatischen Fähigkeiten

  • Ermittlung von Reaktionen auf Stottern, wie z.B. Rückzug oder Überkompensation (z.B. pausenloses Sprechen)

Methode:

Durchführung: Verhaltensbeobachtungen des Kindes während der Kontaktaufnahme, während einer gelenkten und freien Spielsituation, in einer Gesprächssituation und am Stundenende.

Auswertung: Einschätzung der pragmatischen und kommunikativen Fähigkeiten, d.h. der Qualität von verbalem und nonverbalem Ausdruck sowie der Strategien des Kindes hinsichtlich:

  • Initiieren, Aufrechterhalten und Beenden von Handlungen und Gesprächen,

  • Reaktionen auf das Verhalten des Gesprächspartners,

  • Einstellung auf Bedürfnisse des Gesprächspartners,

  • Mitteilungsbedürfnis, Sprechfreude,

  • Vermittlung von emotionaler Befindlichkeit.

Bei der Interpretation sind Kontext und Entwicklungsalter zu berücksichtigen.

Bewertung:

Durch wiederholte Beobachtung und durch Daten aus anderen Untersuchungsverfahren gewinnt die freie Beobachtung an Aussagekraft.


RKS – Reaktion auf kommunikative Stressoren

Verfahren zur Ermittlung der Auswirkungen von kommunikativen Stressoren (Schneider 1997), Protokollbogen in Sandrieser / Schneider!!!

Ziel:

  • Ermittlung von kommunikativen Stressoren, die vermehrt Unflüssigkeiten provozieren,

  • Ermittlung von Reaktionen und Strategien des Kindes im Umgang mit kommunikativen Stressoren,

  • Provokation von symptomatischen Unflüssigkeiten, von denen die Eltern berichten, die die Untersucherin jedoch bisher noch nicht beobachten konnte.

Methode:

Für die Untersuchung geeignete kommunikative Stressoren sind:

  • Zeitdruck,

  • Häufige offene Fragen, Rechtfertigungsfragen,

  • Unterbrechungen,

  • Aufforderungen zum Sprechen,

  • Geteilte Aufmerksamkeit beim Zuhören,

  • Sprachliche Anforderungen, wie z.B. das Erzählen einer Bildergeschichte

Die Aufzeichnung per Video ist sinnvoll, da das gleichzeitige Einsetzen der kommunikativen Stressoren und der Beobachtung die Untersucherin überfordert.

Die Stressoren werden freundlich, nicht verletzend eingebaut. Nicht im Rollenspiel benutzen, da die Rollenübernahme untypische Verhaltensweisen auslöst.

Zur Auswertung werden Veränderungen der Stottersymptomatik, des Interaktionsverhaltens und des Spielverhaltens in Abhängigkeit von den verschiedenen kommunikativen Stressoren vermerkt.

Bewertung:

 bedeutsam zur Ermittlung von Risikofaktoren im Kommunikationsverhalten. Eine wesentliche Ergänzung sind Beobachtungen der Eltern.

 nicht standardisiert

Dauer: Durchführung therapiebegleitend. Auswertung abhängig von der Fragestellung mind. 20 Minuten.


10.2.2.3.2 Sprachsystematische Fähigkeiten

Aus dem Modell der Anforderungen und Fähigkeiten geht die große Bedeutung der sprachsystematischen Fähigkeiten eines stotternden Kindes hervor. Demnach ist auch eine Diagnostik der weiteren sprachlichen Fähigkeiten des Kindes erforderlich (Phonetik / Phonologie, Morphologie / Syntax, Wortfindung...).


10.2.2.3.3 Allgemeine psychische Situation des Kindes

Selbstbild, Einstellungen und Gefühle haben einen großen Einfluss darauf, wie das Kind mit seinem Stottern umgeht. Zur Untersuchung sind informelle Verfahren (Spiel, Interview...), projektive Verfahren (z.B. „Familie in Tieren“..., nur in Kombination und mit Vorsicht, intensive Einarbeitung erforderlich) und Fragebögen (z.B. ab 3. Klasse „Angstfragebogen für Schüler“).


10.2.2.3.4 Familiäre Interaktion

Bestimmte Merkmale im Interaktionsstil der Bezugspersonen können Stottern verstärken (z.B. Reaktionen auf das Stottern) oder reduzieren. Deshalb ist die Betrachtung der familiären Interaktion wichtig. Sie kann aber erst im Laufe der Therapie untersucht werden (vertieftes Vertrauensverhältnis nötig). Es gibt verschiedenen Verfahren.

10.3 Auswertung

10.3.1 Bereich Stottersymptomatik

Es gibt keinen Konsens, dies ist der neueste Erkenntnisstand!

Qualitative Merkmale:

  • Teilwortwiederholungen mit 4 oder mehr Iterationen

  • Dehnungen von ½ Sekunde und mehr

  • Blockierungen von ½ Sekunde und mehr

  • Begleitsymptomatik (fakultativ)

Quantitatives Kriterium:

  • 3 oder mehr Prozent symptomatische Unflüssigkeiten mit oder ohne Begleitsymptomatik. Je nach Störungsdauer spricht man von beginnendem oder chronischem Stottern.


Nach den Vorgaben des SPI oder SSI kann ein Schweregrad zugeordnet werden. So werden wahrscheinlich mehr Kinder als sonst erfasst, was im Hinblick auf eine frühe Intervention bei Risikokindern sinnvoll ist. Oft erübrigt sich so eine Langzeitbehandlung, die Diagnose Stottern bedeutet nicht in jedem Fall Therapie. Ziel der Früherfassung ist es, einer Begleitsymptomatik vorzubeugen, z.B. auch durch Elterninformation.

Zur Therapieentscheidung wird neben dem Schweregrad der Symptomatik der Verlauf, die psychischen Reaktionen und die Risikovalenz herangezogen.

Für die Diagnose sind zwei Kriterien wichtig: die Chronizität und der Schweregrad9.

„Chronisches Stottern“ besteht seit über 12 Monaten. „Chronisches Langzeitstottern“ ist eine stabilisierte Störung, bei der eine Remission äußerst unwahrscheinlich geworden ist, die Bezeichnung wird ab dem Jugendalter verwendet.

Der zutreffende Begriff für nicht behandlungsbedürftige normale Redeunflüssigkeiten lautet normale bzw. physiologische Redeunflüssigkeiten oder Entwicklungs-unflüssigkeiten10.


Bezeichnung

Dauer

Qualität / Häufigkeit

Beginnendes Stottern

Weniger als 6 Monate

Spezifische symptomatische Unflüssigkeiten:

  • Teilwortwiederholungen mit 4 oder mehr Iterationen

  • Dehnungen / Blockierungen von 0,5 Sekunden Dauer oder mehr

  • Fakultativ Begleitsymptomatik

Länger als 6 Monate

3 oder mehr Prozent symptomatische Unflüssigkeiten ohne Begleitsymptomatik oder

symptomatische Unflüssigkeiten mit Begleitsymptomatik.

Chronisches Stottern

Länger als 12 Monate

  • Teilwortwiederholungen, Dehnungen, Blockierungen

  • Fakultativ Begleitsymptomatik


10.3.2 Bereich psychische Reaktionen auf Stottern

  • Je kürzer das Stottern besteht, desto weniger verfestigt sind die psychischen Reaktionen (aufgrund weniger negativen Erfahrungen); je länger das stottern andauert, desto eher ist mit stabilen Mustern psychischer Reaktionen und daraus resultierenden Verhaltensweisen zu rechnen.

  • Dieser Bereich ist besonders schwer veränderbar.

  • Wie schnell sich Reaktionen manifestieren, scheint vom Kind und seiner Umgebung abzuhängen (Tage, Wochen oder Monate).

  • Der Schweregrad psychischer Reaktionen korreliert nicht mit dem Schweregrad der beobachteten Stottersymptomatik.

  • Die Diagnostik der psychischen Reaktionen bei Kindern kann sehr schwierig sein. (je kleiner das Kind, desto schwieriger, bei Jugendlichen oft durch „coolness“ versteckt)

  • Auch wenn noch keine psychischen Reaktionen zu beobachten sind, ist auf deren Risikofaktoren (Tabuisierung, negative Reaktionen aus der Umgebung, Funktionalisierung des Stotterns in der Familie) zu achten.

Beispiele für Hinweise auf psychische Reaktionen auf das Stottern:

In der Anamnese:

  • Verlust der Sprechfreude, ggf. situatives Vermeiden von Sprechsituationen

  • Äußerungen von Wut oder Frustration in Verbindung mit Symptomen

  • Frage des Kindes „warum kann ich nicht richtig sprechen?“

  • Sprachliches Vermeiden

  • Hinweise auf belastende Situationen mit Stottern in Kindergarten und Schule

In der Untersuchungssituation:

  • Auffällige Reaktionen (z.B. Albernheit, Ablenkung, Ausweichen, vegetative Reaktionen) darauf, dass die Untersucherin Pseudostottern zeigt und Stottern thematisiert

  • Berichte des Kindes über die Belastung durch Stottern

  • Negative Etikettierung des Stotterns durch das Kind oder die Umgebung.

10.3.3 Bereich Risikofaktoren

Risikofaktoren für die Entstehung und Aufrechterhaltung von Stottern können sein: genetische Disposition und Risikofaktoren aus dem physiologischen, psychosozialen und psycholinguistischen Bereich.

Die Zusammenhänge sind kaum erforscht, was die Bewertung von Risikofaktoren erschwert.

Das Ziel ist es, die Risikovalenz11 im Einzelfall zu bestimmen, damit eine Therapieentscheidung theoriegestützt und hypothesengeleitet getroffen werden kann.


Untersuchungsergebnisse

Bewertung

Konsequenz

Stottersymp-tomatik

psychische Reaktionen

Risiko-faktoren

Risikovalenz

Therapeutisches Vorgehen

uneindeutig

nein

nein

klein

  • Elterninformation

  • Kontrollen bei Bedarf

uneindeutig

nein

ja

Abhängig von den Risikofaktoren

  • Elterninformation, Kontrollen

  • Ggf. Therapie de Risikofaktoren

eindeutig

nein

nein

Abhängig von der Stottersymptomatik

  • Elternberatung

  • Stottertherapie

eindeutig

nein

ja

Abhängig von Stottersymptomatik und Risikofaktoren

  • Elternberatung

  • Therapie von Stottern und Risikofaktoren

eindeutig

ja

nein

Abhängig von Stottersymptomatik und Störungsbewältigung

  • Elternberatung

  • Therapie von Stottern und Störungsbewältigung

eindeutig

ja

ja

Abhängig von Stottersymptomatik, Störungsbewältigung und Risikofaktoren

  • Elternberatung

  • Therapie von Stottern und Risikofaktoren


Baumgartner 2002:

Sprachheilpädagogische Linie:

  • Diagnostik des Stotterns ambivalent:

auf der einen Seite besteht Notwendigkeit, Stottern zu objektivieren und quantifizieren um auch Effektivität sprachheilpädagogischen Handelns nachzuweisen,

andererseits gibt es gegenüber Untersuchungsverfahren Einwände, da man solch einer komplexen, dynamischen und multidimensionalen Störung nicht gerecht werden kann

  • Devise: von kausaler zu systematischer, vom Symptom zur Lebenssituation, von der Schwäche zur Fähigkeit, von der objektiven zur kontrollierten „Verstehensdiagnostik“ (auch subjektive Theorien aller Beteiligten sind von Bedeutung!)

  • Interesse an Behandlungsmethoden war grundsätzlich viel höher als an Diagnostik, die zu einer evaluierten, selektiven, differentiellen oder adaptiven Indikation führte


  • Zeit ist reif, diagnostische Verfahren sowohl in Form der Eingangsdiagnostik als auch der Prozess-, Ziel- und Erfolgsdiagnostik als integralen Bestandteil stottertherapeutischen Vorgehens zu konzeptualisieren

  • qualitative Methoden (z.B. teilnehmende Beobachtung, Interaktions- und Gesprächsanalysen, freie Gespräche, nicht standardisierte Interviews, Fragebogen, Fallanalysen, Therapiedokumentationen) sollten nicht zuletzt die so bedeutenden persönlichen Ziele bestimmen

  • stotternde Person und nicht das Programm legen therapeutisches Vorgehen fest

  • Vorschläge für heilpädagogische Leitlinien bei der qualitativen Diagnostik: veränderte Fragen, neue Perspektiven, veränderte Blickwinkel, Erkenntnis der begrenzten Reichweite diagnostischer Methoden

Baumgartner 2002:

Statusdiagnostik (als Eingangsdiagnostik)

  • Vorerhebung

  • umfassende Problem- und Ressourcenanalyse (kontextueller Charakter der sprachlichen Problemlage ist von Interesse, Selbsthilfe und Lösungswege werden aufgedeckt, evtl.: Welche Bedeutung hat Stottern in anderer Kultur?)

  • standardisierte und nicht standardisierte Diagnose der Sprach-, Sprech- und Kommunikationsfähigkeit (Unterbrechungen, Sprecherwechsel, Zuhörverhalten, Sprechgeschwindigkeit, Äußerungslänge, thematische Kohärenz, Reaktion der Eltern auf das Stottern, Reaktion der Eltern auf den sprachlichen Output des Kindes insgesamt, bilingualer Druck, Wie wird mit fremder Person kommuniziert?, Wie reagiert Kind auf veränderte Sprechmerkmale des therapeutischen Modells? Was bewirkt modellieren und kommentieren von Sprechunflüssigkeiten? Geht das Kind auf Thematisieren seines Stotterns ein? Unter welchen Bedingungen reduziert es seine motorischen und kognitiven Anstrengungen?, Wie gelingt Sprechen unter erschwerten Bedingungen?)

  • Objektive Maße: Art und Häufigkeit des Stotterns, Durchschnittsfrequenz jedes einzelnen Stottertypus

  • subjektive Maße: Ratingskalen, Beurteilung durch Eltern, Fragebögen zum Stresserleben, Coping-Strategien, Zufriedenheit

  • Analyse der Art und des Umfangs weiterer, mit dem Stottern interagierender Auffälligkeiten

  • Dokumentation, Hypothesen, Interpretation aller Daten

Baumgartner 2002:

Prozessdiagnostik

  • kontinuierliche Anpassung an die veränderte Problemlage und die situationsbestimmte Feinsteuerung der sprachlichen Interaktion in einer Therapiesequenz (Adaption)

  • adaptiv regulierte Stottertherapien sind multimethodisch, stark klärungs-, kommunikations- und ressourcenorientiert

  • komplexe Problemlage wird nach und nach herausgearbeitet, Therapieziele gemeinsam geklärt, formuliert und elaboriert

  • Prozessdiagnostik überprüft immer wieder einzelne Ziele im Zielsystem

  • über ein ganzheitliches Verständnis vom Spracherwerb erkennen Kind und Therapeut alters- und störungsangemessene Verhaltens- und Erlebensdefizite sowie ein Fähigkeitsprofil zur besseren Bewältigung der Sprechflüssigkeit

  • Der Sprachheilpädagoge erstellt im Verlauf der Behandlung ein zunehmend präziseres und valideres Modell des stotternden Kindes und seiner Interaktion hilft bei der Bewältigung flüssigen Sprechens, bei der Klärung von Motiven, Zielen, Einstellungen

  • therapeutische Vorgehensweisen müssen durch die Diagnostik an die sich entwickelnden Fähigkeiten des Kindes und der Umwelt angepasst werden

Baumgartner 2002:

Zieldiagnostik

  • führt verschiedene Zielebenen zusammen (kurzfristige und langfristige Ziele, Lebensziele, persönliche und therapeutische Ziele)

  • Zielformulierung sollte gemeinsam (Therapeut und Klient) erfolgen

Baumgartner 2002:

Modellgeleitete diagnostische Hypothesenbildung

  • von ihrem systemischen und konstruktivistischen Selbstverständnis her benötigt die Sprachheilpädagogik ein polyfaktorielles, integratives und dynamisches Modell des Stotterns

  • Polyfaktorielle Modelle beschreiben verschiedene, interagierende Faktoren mit oder ohne stärkerer Wertung eines neurophysiologischen/neuromotorischen Faktors im Verbund mit anderen

  • 5-dimensionales Modell von Susca und Healey (2000) reflektiert sich verändernde, miteinander verwobene kognitive, linguistische, soziale, affektive und motorische Kapazitäten, die Stottern zu jedem Zeitpunkt seines Auftretens individualisieren und gibt Anhaltspunkte für eine theoriegeleitete diagnostische Hypothesenbildung. Mit seiner Hilfe kann ein individuelles Profil der sprachlichen und kommunikativen Problemlage der stotternden Person erstellt werden und eine Ausrichtung auf die Kapazitäten erfolgen

  • Stotterereignisse sind Ergebnisse multifaktoriellen Inputs, systemastisch organisierter Interaktion zwischen den motorischen, kognitiven, linguistischen und affektiven Komponenten der Sprachproduktion

  • Smith (1999) setzt die Erkenntnislage über das Stottern in Analogie zur Tätigkeit von Vulkanen. Konzentriert sich der Diagnostiker auf das sichbare Stotterereignis (Vulkanerruption), verliert er den Überblick über die Dynamik der Vorgänge, die zum Stottern führen (Bewegungen tektonischer Platten,...). Smith hebt die Dysfunktionalität der Sprechmotorik als „Herzstück“ jeglicher Stottervariante hervor  kognitiver, linguistischer und emotionaler Faktor sind alle drei direkt oder indirekt mit sprechmotorischen Abläufen verbunden. Im Einzelfall muss geklärt werden, unter welchen Bedingungen der sprechmotorische Prozess geschwächt wird und es zum Stottern kommt

  • Bei den meisten Modellen ist der Faktor „familiäre Umwelt“ von großer Bedeutung, da sie sehr wichtig für den Erwerb von Sprache und Sprechflüssigkeit ist. Diagnostik untersucht sprachlichen Input der Eltern nach: Intonationsmuster, Satzlänge, Satzkomplexität, semantische Komplexität, Turn-taking, Unterbrechung, tägliche gemeinsame Dialogzeit, Direktivität, kritische Kontrolle der kindlichen Äußerung sowie Sprechgeschwindigkeit

  • In mehrdimensionalen Modellen bringt jedes stotternde Kind ein einzigartiges Set an Fähigkeiten flüssig zu sprechen ein, und erst die Interaktion dieser Fähigkeiten mit den Gegebenheiten der kommunizierenden Umwelt bestimmen Auftreten und Entwicklung der Flüssigkeit. Diagnostische Aufgabe ist die Aufdeckung der Art und Weise, wie die individuelle Sprechpotenz des Kindes mit spezifischen Merkmalen der kommunizierenden Umwelt interagiert (Schwartz 1998)

  • anders als mit polyfaktoriellen Modellen, kann Individualität, Dynamik, Variabilität des Stotterns nicht vorläufig erklärt werden

  • mehrdimensionale Modelle repräsentieren Wissen, das von einem holographisch arbeitenden Sprachgehirn ausgeht, von der Vernetzheit des Sprachproduktionssystems als strukturiertem Ganzen. Eine diagnostische Konsequenz wäre, nicht ein Element besonders präzise zu diagnostizieren, sondern die für das Ingangsetzen des Erwerbs der Sprechflüssigkeit jeweils günstige Stelle herauszufiltern. Therapeutische Anstöße an dieser Stelle lösen Veränderungen an anderen aus.

Baumgartner 2002:

diagnostische Evaluation

  • es gibt keine Übereinkunft, wie Stottern beschreibbar, identifizierbar und kategorisierbar ist (Packmann und Onslow 1999) und - was ist Sprechflüssigkeit?

  • universal akzeptierte Definition des Stotterns fehlt

  • Meistens reduziert man Stottern zur besseren Objektivierung auf die Ebene des Sprechverhaltens, um dieses dann anhand der Merkmale Frequenz, Dauer, Stärke zu diagnostizieren. Die Zuverlässigkeit der Diagnose steigt erst mit der Feststellung von Mitbewegungen, sichtbaren muskulären Anstrengungen sowie kognitiver Besorgtheit und emotionalem Unbehagen. Allerdings wird in den Dimensionen Vermeidungsverhalten, emotionale und kognitive Unsicherheit, verbunden mit geringer Selbstakzeptanz die Objektivität der Diagnose geringer (Hedge 1996)

  • Melnick und Conture (2000) begrenzen Stottern deutlich auf Unflüssigkeiten innerhalb der Wörter (Laut- und Silbenwiederholungen, Wiederholungen ganzer monosilbiger Wörter, hörbare Lautprolongationen, gespannte Pausen oder Blockaden) und unterscheiden es von Unflüssigkeiten zwischen Wörtern (Interjektionen, Wiederholungen ganzer, polysilbiger Wörter, Wiederholungen von Phrasen, die vollständig aus ganzen Wörtern bestehen)

  • Stottern tritt als fluktuierendes, variierendes Sprechverhalten auf, wodurch ein repräsentatives Urteil über das Symptom erschwert wird

  • „Stottern“ und „Stotterer“ sind relative Begriffe

  • Stottern bezieht sich grundsätzlich nur auf eine bestimmte Person und auf die Einzigartigkeit ihres sprachlichen und kommunikativen Lernens

Baumgartner 2002:

Kann man Stottern und seine Veränderung messen?

  • Person, die stottert entzieht sich einer allumfassenden Messbarkeit im naturwissenschaftlichen Sinn.

  • Stottern nach wissenschaftlichen Kriterien sicher zu erfassen verhindern:

  • verdeckte, von außen nicht direkt beobachtbare Ereignisse in der Person,

  • nicht messbare Einflüsse (z.B. Sicherheit, die Familie dem Kind vermittelt),

  • selbstrefferenzielles Lernen („Stottern“ erzeugt „Stottern“),

  • hohe Komplexität des Stotterns,

  • seine Nonlinearität, Mehrdimensionalität und Dynamik

(Baumgartner 2002, Smith 1999, Starkweather 1999)

  • „Die nicht beobachtbaren Ereignisse scheinen größere Bedeutung zu haben als die beobachtbaren“ (Starkweather 1999)

  • Qualitative Diagnostik: nimmt nicht nur Aussagen vor, dass Lernzuwachs stattfindet, sondern auch wie er stattfindet. Stottern wird als persönliches Ereignis reflektiert, das auch introspektiv aus der Erfahrung sehr subjektiver Verarbeitungs- und Konstruktionsprozesse zu erschließen ist

  • natürliche Selbstheilung (spontane Remissionen): Wiederherstellung der Sprechflüssigkeit ist ein selbstgesteuerter Prozess mit vielen Variablen

  • Frage nach einer sprachheilpädagogisch erwünschten Diagnostik ist auch eine Frage an die Art und Weise der Behandlung. Geht es primär um die Modifikation des Stotterverhaltens oder um die selbstinitiierte Wiederherstellung der Sprechflüssigkeit im Sinne der Heilung

  • Modifikation: primär fremdgesteuert, hat Anfang, Mitte, Ende und möglichst präzise vorgegebene Kriterien für das Behandlungsende

  • Heilung: stärker selbstgesteuert, mit Eigenverantwortung für Ziele, Methoden,..., Kommunikation über Symptomatik, Ursachen, Ziele, Ressourcen und Behandlungseffekte, offener, voranschreitender Prozess

  • Person, die stottert, erlaubt ob Selbstheilung vorangeht oder nicht, sie evaluiert das Ergebnis der Therapie, sie (und nicht die Methode oder der Sprachheilpädagoge) ist finale Autorität


Baumgartner 2002:

Prädiktoren für chronischen Verlauf des Stotterns

mit speziellem Computerprogramm (Artifical Neural Network) konnten Geetha et al. (2000) mit 92 prozentiger Treffsicherheit Prädiktoren für normale und gestotterte Unflüssigkeiten objektivieren:



Prädiktoren

(Variablen für die Vorhersage des chronischen Stotterns)


 

unauffällige Kinder


 

auffällige Kinder

Prolongationen und Blockaden

nein

ja

Laut- und Silbenwiederholungen

auch bei Kontrollgruppe, aber Frequenz, Anzahl der wiederholten Silben, Produktion des Schwa-Lautes und Geschwindigkeit der Wiederholungen unterschieden sich bei beiden Gruppen signifikant

ja

hörbare und nicht hörbare Pausen

ja

ja

unflüssige Äußerungen


 

bei 2-3% der Äußerungen

bei 3-30% der Äußerungen

Dauer der Unflüssigkeiten


 

fließend

0,5–60 sec (meist 2-9 sec)

Sichtbare Mitbewegungen

nein

ja

Sprechrate


 

bei 60-70% erhöhte Sprechrate bezogen auf mehrere Sprechsituationen

Einstellungen gegenüber sich selbst und anderen Personen


 

problöematischer und entwicklungshemmender

zusätzliche sprachliche Auffälligkeiten


 

bei fast 80%


Indikatoren für Therapiebeginn (Conture 2001):

  • Anzahl der Unflüssigkeiten übersteigt 10%

  • hörbare und nichthörbare Prolongationen machen mehr als 30% aller Unflüssigkeiten im Wort aus

  • Score auf Stuttering Severity Scale beträgt 19 oder mehr (Riley 94)

  • Stuttering Prediction (Riley 1981) Instrument: 17 oder mehr Punkte

  • auffällige Augen(-lid)bewegungen während des Stotterns

  • Kind zeigt Stottercluster (mehrere Stotterereignisse hintereinander), besonders wenn diese 25 % oder mehr der Unflüssigkeiten ausmachen

  • Stottern tritt seit mehr als 18 Monaten auf

Baumgartner 2002:

Effektivität und Erfolg

  • Professionelle Diagnostik liefert Daten, welche die Überlegenheit gekonnt angewandter Therapieverfahren gegenüber unspezifischer verfahren mit u.U. Placeboeffekten belegen

  • Therapieübergreifend fehlen im deutschsprachigen Raum solide standardisierte Instrumentarien, die Therapieergebnisse sinnvoll vergleichbar machen

  • Für die Qualitätssicherung ist eine Formulierung von Therapiezielen für die individualisierte Prozess- und Erfolgsmessung zunehmend wichtiger.

  • Heute gelten folgende Kriterien für eine erfolgreiche, datenbasierte Behandlung:

  • Ergebnisse müssen mit zuverlässigen und objektiven Daten wie der Reduktion der Stotterhäufigkeit belegt werden,

  • den Erfolg bestätigen erst wiederholte Messungen und ausreichend umfangreiche Spontansprachproben

  • Verbesserungen müssen außerhalb der Therapie in realistischen Alltagssituationen nachgewiesen werden

  • die Stabilität des Erfolges der behandelten Person sind vom Gesprächspartner als natürlich und spontan zu bewerten

  • die behandelte Person sollte ohne ständige Selbstkontrolle und –beobachtung sprechen können

  • Evaluation von Curlee (1993) misst:

  • Stotterfrequenz

  • Dauer der typischen und längsten Stotterereignisse

  • Länge stotterfreier Äußerungen

  • Sprechgeschwindigkeit

  • Natürlichkeit des Sprechens

in Anbetracht der Komplexität ergänzen den diagnostischen Befund:

  • Einstellung des Klienten zur Störung

  • allgemeines Wohlbefinden

  • Lebensqualität

  • soziale und kommunikative Interaktionsfähigkeit und –willigkeit

  • Ebenfalls zu beachten:

  • selbstbewusster Umgang mit dem Reststottern

  • Zunahme positiver Selbstwertgefühle

  • Selbstbehauoptung in kommunikativen Problemlagen

  • Fähigkeit in verschiedenen Situationen erfolgreich zu kommunizieren

Johannsen & Schulze: Kurzzusammenfassung

Differentialdiagnostik: Abgrenzung von anderen Grunderkrankungen (neurologisch, psychopathologisch), wichtig: mehrdimensionale Unterscheidungskataloge!

quantitative Merkmale: mehr als drei bis zehn Unflüssigkeiten pro 100 Wörter (Johannsen & Schulze 1985), Vokaldehnung länger als eine Sekunde, Laut- und Silbenwiederholungen mit mehr als drei Iterationen, insgesamt häufige Symptomatik

qualitative Merkmale: Wiederholung kleiner Elemente, Verspannungen, Schw-Laut, veränderter Sprechrhythmus bei den Iterationen, Veränderung von Tonhöhe und Lautstärke bei den Dehnungen, Begleitsymptomatik und Vermeidungsverhalten

11. Therapie

11.1 Ziele

Übergeordnetes Therapieziel bei beginnendem oder chronischem Stottern im Kindesalter ist eine Remission oder, wenn diese nicht erfolgt, ein optimales Coping (Vermittlung funktioneller Coping-Strategien und Abbau von dysfunktionellen Coping-Strategien).

Die Vermittlung praktikabler Coping-Stategien ist dabei in jedem Fall nötig, da der Druck der Remissions-Hoffnung und damit indirekt Spannung genommen wird, was sich positiv auf das Stottern auswirken kann. Die Sprechkompetenz soll sich normal entwickeln.

11.1.1 Therapieziele im Bereich Stottersymptomatik

  • Begleitsymptome reduzieren, neuen vorbeugen.

  • Stottern soll einfacher werden durch Arbeit an den Kernsymptomen

  • Unterschieden werden

    • Spontane Sprechflüssigkeit (Kriterien für flüssiges Sprechen sind erfüllt)

    • Kontrollierte Sprechflüssigkeit (Techniken, um Sprechflüssigkeit beizubehalten. Ziel: stotterfreies Sprechen, auch auf Kosten der mentalen Leichtigkeit oder Kontinuität bzw. angemessenem Sprechrhythmus. Zuhörern fällt oft eine geringe Veränderung der Sprechweise auf.)I

    • Akzeptables Stottern (Ziel ist kurzes anstrengungsfreies Stottern ohne negative Emotionen und Gedanken und ohne Vermeideverhalten. Oft auf Kosten von Geschwindigkeit und Kontinuität. Manchmal ist die mentale Leichtigkeit betroffen, wenn die Symptome bewusst beeinflusst werden müssen.

  • In Sandrieser / Schneider ist das Ziel spontane Sprechflüssigkeit. Wenn dies nicht erreicht werden kann, ist das Ziel akzeptables Stottern.

11.1.2 Therapieziele im Bereich psychische Reaktionen

  • Begleitsymptomatik abbauen bzw. verhindern.

  • Selbstbild als kompetenter Sprecher

  • Auseinandersetzung damit, dass Stottern eine andauernde Störung bleiben kann.

  • Akzeptanz für angemessene primäre Gefühle

  • Reduzierung des Leidensdrucks, indem die primären Gefühle zugelassen werden

  • Ziel ist erreicht, wenn der Stotternde selbstsicher und flexibel mit seiner Störung umgehen kann und Stottern nicht tabuisiert.

11.1.3 Therapieziele im Bereich Risikofaktoren

(orientiert am Modell von Anforderungen und Fähigkeiten)

  • Förderung von zu wenig entwickelten Fähigkeiten, um eine Remission oder erfolgreiches Coping zu begünstigen, z.B. SES-Therapie

  • Elternarbeit, damit Bedingungen geschaffen werden, die eine Remission oder erfolgreiches Coping begünstigen, z.B. umgebungsbedingte Belastungen und kommunikative Stressoren abbauen (eigene Ansprüche des Kindes verringern)

  • Therapiebegleitende Verlaufsdiagnostik kann der Variabilität gerecht werden. Achtung, Mehrdimensionalität ist nötig!!

11.2 Hauptrichtungen der Stottertherapie

Indirekte Ansätze arbeiten entweder nur mit den Bezugspersonen oder mit dem Kind Risikofaktoren und Belastungen zu therapieren, ohne das Stottern selbst anzugehen.

Indirekte Ansätze bergen die Gefahr der Tabuisierung und können dann aufrechterhaltend wirken. Es darf dem Kind gegenüber verbalisiert werden, warum es in Therapie ist.

Direkte Ansätze arbeiten mit dem Kind selbst daran, das Stottern oder das Sprechen selbst direkt zu analysieren und zu verändern, zum Teil auch unbewusst. Meist wird aber ganzbewusst am Stottern bzw. am Sprechen gearbeitet.

Direkte und indirekte Ansätze können miteinander kombiniert werden.

Vergleich der Therapierichtungen

Ansatz

Direkt

Indirekt

Bereich

Sprechverhalten

Stotterverhalten

Psyche

Risikofaktoren

Verfahren

Fluency Shaping

Stuttering Management

z.B.

  • Spieltherapie

  • Elternberatung

  • Desensibilisierung

  • Selbstbehaup-tungstraining

z.B.

  • SES-Therapie

  • Elternberatung

  • Interaktions-therapie

Zielbereiche

Spontane oder kontrollierte Sprechflüssigkeit

Spontane oder kontrollierte Sprechflüssigkeit oder akzeptables Stottern

Spontane Sprechflüssigkeit oder akzeptables Stottern

Spontane Sprechflüssigkeit oder akzeptables Stottern


11.2.1 Fluency Shaping

  • Verfahren zur Bearbeitung des Sprechens

  • Ziel: Stottern eliminieren

  • Theoretische Annahme: Stottern ist erlernt ï‚® lerntheoretischer Therapieansatz

  • Methode: durch verhaltenstherapeutische Verfahren wird das vorhandene spontan flüssige Sprechen ausgeweitet oder die Sprechweise wird so verändert, dass Stottern nicht mehr auftritt.

  • Z.B. Gradual Increase in Length and Complexity of Utterance – GILCU von Ryan 1974

Für ältere Vor- und Grundschulkinder. Modalitäten: Lesen, Monolog, Konversation

Grundprinzipien:

    • Unflüssigkeiten werden korrigiert („Stop! Sag es flüssig!“), flüssige Wörter gelobt.

    • Steigerung der Länge und sprachlichen Komplexität von einem Wort in 18 Stufen bis zu 5 Minuten Redezeit. Wenn 100 % der Äußerungen dieser Stufe flüssig, kommt die nächste.

    • Nach einer gewissen Zeit führen die Eltern die Übungen zuhause durch.

    • Transferprogramm für alle Kinder

    • 22 Monate Nachsorge

  • Z.B. Direkter Behandlungsansatz nach Onslow 1994 / 1996

Variante von GILCU

Grundprinzipien:

1. positive Verstärkung des stotterfreien Sprechens (für jede Korrektur des Stotterns mindestens fünfmal stotterfreies Sprechen loben)

2. Eltern sollen ihr Kind bitten, gestotterte Äußerungen selbst zu korrigieren

Sinn des Überkorrigierens: gestotterte Äußerung mit mehreren korrekten Wiederholungen löschen; außerdem Gelegenheit, Kind ausgiebig für stotterfreies Sprechen zu loben

Ergebnis einer Studie: am Ende sprachen alle 12 behandelten Kinder fast ohne zu stottern

Fazit: Früh mit der Therapie beginnen!!

  • Man geht davon aus, dass negative psychische Reaktionen verschwinden, sobald das Sprechen flüssig ist.

  • Stärken: hoch strukturierter Aufbau, klare Zielkriterien, kontinuierliche Erfolgsmessung, umfangreiches Transferprogramm, Einbeziehung der Eltern und Lehrer

  • Schwächen: kaum Anpassungen an individuelle Problemstellungen möglich, Hilfestellungen für den Patienten sind nicht ausreichend, Viel Motivation und Ausdauer nötig, Verantwortung wird z.T. an die Eltern abgegeben. Stottern wird als versagen interpretiert, negative psychische Reaktionen werden nicht thematisiert, die Behandlung der Risikofaktoren ist nicht vorgesehen.

11.2.2 Stuttering Management, Stuttering Modifikation

  • Verfahren zur Bearbeitung des Stotterns

  • Ziel: Stottern flüssiger machen und ohne negative Gefühle oder Vermeideverhalten zu stottern, um dadurch flüssiges Sprechen zu erreichen.

  • Theoretische Annahme: Stottern ist nicht erlernt, die Belastung entsteht durch die Reaktionen auf die Kernsymptomatik und das Vermeideverhalten ï‚® Verfahren zur sensomotorischen Steuerung in Stottersymptomen kombiniert mit Methoden der psychologischen Beratung hinsichtlich der Reaktion auf Stottern.

  • Wichtigstes Mittel: Pseudostottern. Dadurch lernt das Kind, dass es sein Stottern beeinflussen kann.

  • Z.B. Therapieansatz von Carl Dell12 (1995):

Grundprinzipien:

  • behutsame aber direkte Enttabuisierung des Stotterns und gleichzeitig Arbeit am Symptom

  • Phasen:

Etablieren von Blocklösetechniken

  • Anhand von Pseudostottern werden drei unterschiedliche Arten zu sprechen vermittelt: normal, locker gestottert, hart gestottert;

  • Lokalisieren, wo in Pseudosymptomen Anspannung spürbar ist;

  • Nachbessern: ein hart pseudogestottertes Wort zu Ende stottern und dann mit lockerem Stottern wiederholen.

  • Pullout: ein hart pseudogestottertes Wort langsam in lockeres Stottern verwandeln

Stabilisierung und Transfer der Blocklösetechniken

  • Vermehrt lockeres Pseudostottern in der Spontansprache zeigen als Übung des Zielverhaltens und als Desensibilisierung gegen Kernsymptomatik

  • Transfer des Pullout auf echte Symptome in der Spontansprache

  • Aufbau von Sprechflüssigkeit durch Desensibilisierung gegen Auslöser von Stottern

Nachsorge

ï‚· Aufbau der Unabhängigkeit von der Therapeutin;

ï‚· Auffrischunq bei Rückfällen.

  • nicht phasengebundene Elemente: jederzeit Gespräche mit dem Kind über das Stottern, grundsätzlich Elternberatung, Einbezug der Lehrerinnen

Stärken: flexibles, motivierendes und am Kind orientiertes Vorgehen, Einbeziehung der psychischen Ebene. Stottern, Sprechangst und Rückfälle werden als Chancen aufgefasst. Die Aufmerksamkeit auf den Sprechvorgang ist nur bei Stottersymptomen nötig.

Schwäche: Kriterien für ein Fortschreiten in der Therapie sind nicht eindeutig festgelegt, es findet keine qualitative und quantitative Erfolgsmessung statt, Einfluss von Risikofaktoren wird vernachlässigt.


11.2.3 Kombination von Fluency Shaping und Stuttering Modifikation

Es gibt verschiedene Versuche, Fluiency Shaping und Stuttering Management zu kombinieren. Es ist grundsätzlichmöglich, um ein flüssigeres Sprechen als bisher zu erreichen (z.B. Wall und Myers 1984 und Peters und Guitar 1991).

11.2.4 Begründung eines mehrdimensionalen, einzelfallorientierten Ansatzes

Bisherige Erkenntnisse über die Entstehung und den Verlauf von Stottern:

  • Die Stottersymptomatik besteht aus der Kernsymptomatik und ggf. einer Begleitsymptomatik.

  • Als weitere Begleitsymptome können bewusste und unbewusste negative psychische Reaktionen auf Stottern (z.B. Scham, Schuldgefühle) auftreten, die Auswirkungen auf der Verhaltensebene (z.B. Vermeideverhalten) haben können.

  • Bei der Entstehung und Entwicklung von Begleitsymptomen handelt es sich zu einem großen Teil um erlerntes Verhalten.

  • Psycholinguistische, physiologische und psychosoziale Faktoren können auf das Stottern aufrechterhaltend wirken. Sie gelten als Risikofaktoren.

  • Die Stottersymptomatik, die psychischen Reaktionen, die Risikofaktoren und die Wechselwirkungen zwischen diesen drei Bereichen können bei jedem Patienten unterschiedlich sein.

Konsequenzen für die Therapie

  • Eine mehrdimensionale einzelfallorientierte Stottertherapie berücksichtigt die drei Bereiche Stottersymptomatik, psychische Reaktionen, Risikofaktoren und die Wechselwirkungen zwischen diesen drei Bereichen.

  • Die Diagnostik muss Informationen über alle drei Bereiche geben und auch im Verlauf der Therapie Aussagen über die Veränderungen machen können.

  • Die Zielsetzung der Therapie muss realistisch sein (Remission, größere Intervalle spontaner Sprechflüssigkeit, funktionelle Coping-Strategien).

  • Frühtherapie ist am erfolgreichsten.

  • Die Therapieplanung und –durchführung muss auf die individuellen Gegebenheiten abgestimmt sein.

(Kiese-Himmel 1996)

Medikamentöse Therapie darf nicht als bewährte Therapieform gelten und vermag eine umfassende Stottertherapie nicht zu ersetzen. Sie kann allenfalls als ein Baustein im Therapiepaket in Erwägung gezogen werden und das nur bei älteren Kindern und Erwachsenen. Medikamente wirken überwiegend auf die nonverbalen Auffälligkeiten.

Eine Sprechübungs-Therapie mit hoher Behandlungsdichte (tägliche Sitzungen) hat sich bei Erwachsenen als deutlich überlegen gegenüber der Psychotherapie13 herausgestellt.

Die logopädische Basistherapie von pathologischen Sprechunflüssigkeiten umfasst

  • Wahrnehmungsschulung, um die Spannung, die den Primärsymptomen vorausgeht, zu bemerken und zu stoppen

  • Abbau der hohen Spannungen in der Sprechmuskulatur (z.B. Lockerungsübungen durch Kieferschütteln, Kauübungen, Regulierung und Rhythmisierung der Atmung)

  • Entfernung der Aufmerksamkeit von der Artikulationskontrolle (z.B. durch Vertäubung mittels weißem Rauschen, verzögerte Hör-Sprech-Rückkopplung oder Hinlenkung auf den Kommunikationsinhalt)

  • Sprechhilfen (z.B. Rhythmus-Sprechen, prolongiertes Sprechen, Betonungssprechen)

  • Anlauttechnik (weicher Stimmeinsatz der Wortanfänge)

  • Veränderung der Atmung

Prolongiertes Sprechen und die Anlauttechnik gehören zu den empirisch am besten abgesicherten Sprechtechniken.

Flüssiges Sprechen in der Therapiesituation ist relativ schnell zu erreichen. Flüssiges sprechen mittels Sprechhilfen darf aber nicht mit der wieder zu erlangenden Autoregulation des Sprechens verwechselt werden. Die Hauptschwierigkeit ist, das neue Sprechverhalten langfristig zu etablieren und zu generalisieren. Am besten hat sich hierfür eine übende Methodenkombination in einem kognitiv-verhaltenstherapeutischen Kontext bewährt. Zudem ist es hilfreich, Angehörige oder Freunde des Stotternden an der Therapie zu beteiligen („social support“). Der Anschluss an eine Selbsthilfegruppe ist ratsam.

Als gut Prädiktoren für positive Therapieerfolge gelten Therapiedauer (Erwachsene: mindestens 100 Stunden + therapeutische Nachsorge, Heimprogramm, Stützkurse)) und Therapieintensität.

Wissenschaftlich gesicherte und an Therapiemethoden gebundene Erfolge sind eher selten. Erfolg wird meist als mittlere Sprechflüssigkeitsverbesserung unter konstanten Rahmenbedingungen definiert.

Spontanremissionen bei Erwachsenen gehen vermutlich auf die Erfahrung, kontinuierlich besser mit dem Stottern umgehen zu können, zurück.

11.3 Anforderungen an eine Therapie von Stottern im Kindesalter

(Sandrieser / Schneider Seite 63)

  • Darf sich nicht auf das Sprechverhalten oder psychotherapeutische Intervention beschränken.

  • Kann keine Symptomfreiheit versprechen, Remissionswahrscheinlichkeit hoch, aber nicht kalkulierbar.

Ziele:

  • Aufrechterhaltende Bedingungen abbauen

  • Entwicklung von Begleitsymptomatik vorbeugen

  • Strategien für eine angemessene Kommunikation mit dem Stottern vermitteln


Spezifische Anforderungen:

Therapie der Stottersymptomatik

... muss auf Kenntnissen der Chronifizierungsprozesse beruhen. Dies bedeutet im Einzelnen:

  • Vorbeugung oder Abbau voll Ankämpfverhalten, Vermeide- und Aufschubver­halten;

  • Erarbeitung einer Sprechweise, die sich an Starkweathers Konzept für flüssiges Sprechen orientiert, d.h. ein möglichst großes Maß an muskulärer und mentaler Leichtigkeit, Kontinuität und Geschwindigkeit;

  • Einplanung einer Nachbetreuungsphase, um Rückfällen gerecht zu werden.


Therapie der psychischen Reaktionen auf das Stottern

  • Vorbeugung oder Abbau von unangemessenen negativen kognitiven und emotio­nalen Reaktionen auf Stottern;

  • Enttabuisierung der Störung zur besseren Störungsbewältigung bei Eltern und Kind;

  • Unterstützung der Selbstbehauptungsfähigkeit und Probleinlösefähigkeit, um einen selbstsicheren und flexiblen Umgang mit Stottern zu ermöglichen.

Therapie der Risikofaktoren

Einer Therapie, die günstige Bedingungen für eine Verminderung der Stottersymptomatik oder gar für eine Spontanremission schaffen will, muss eine Analyse von auslösenden oder aufrechterhaltenden Risikofaktoren zugrunde liegen. Diese kann durch das Modell von Anforderungen und Fähigkeiten geleitet sein. Im Einzelnen bedeutet die Therapie der Risikofaktoren;

ï‚· Elternberatung und Einbeziehung der Umgebung für einen günstigen Umgang mit Stottern;

ï‚· Einbeziehung der Umgebung zur Ermittlung und ggf. Verminderung aufrechterhaltender externer und interner Anforderungen;

  • Fachkundige Beurteilung des Sprachentwicklungsstandes und ggf. Behandlung von Sprachentwicklungsstörungen;

  • Orientierende Beurteilung der kognitiven und emotionalen Fähigkeiten und ggf. Veranlassung der Zusammenarbeit mit Fachleuten zur Diagnostik und Therapie.


Diese drei grundlegenden Bereiche der Stottertherapie (Stottersymptome, psychologische Reaktionen, Risikofaktoren) bilden die Struktur der Darstellung von Diagnostik und Therapie in Sandrieser / Schneider.

11.4 Rahmenbedingungen

11.4.1 Ambulante und stationäre Therapie

  • Meist ambulant (Vorteile: Kind bleibt in Umgebung, kontinuierliche Elternberatung möglich; Nachteile: nicht häufig genug, Transfer ist aufwändiger)

  • Wenn zu weit weg von Wohnort oder soziale Umstände es gebieten, auch stationär (Vorteile: große Intensität, Alltagstransfer kontrollierbar; Problem: Elternarbeit erschwert, Wiedereingliederung oft schwer)

  • Ideal: Kooperation von ambulanten und stationären Therapeuten

11.4.2 Häufigkeit der Behandlungstermine in der ambulanten Therapie

  • Was ausreicht, hängt von Art und Phase der Therapie ab.

  • Minimum: 45 Minuten pro Woche (bei leichterer Symptomatik und Schwerpunkt auf Elternarbeit auch längere Abstände)

  • Hohe Termindichte sinnvoll bei motorischem Lernen (Übungseffekt) oder bei der Desensibilisierung (damit Ängste nicht zwischendurch wieder aufgebaut werden)

  • In der Nachsorge große Abstände

11.4.3 Dauer der Therapie

  • Festgelegte Stundenzahl oder individuelle Planung

Kürzer, wenn

  • Frühtherapie

  • Keine Risikofaktoren

  • Hohe Motivation des Kindes

  • Engagierte Eltern

  • Behandlungen häufig genug möglich

  • Therapeutin kompetent


 

Länger, wenn

  • Längeres Stottern

  • Viele Begleitsymptome

  • Vorherige Therapie (n)

  • Risikofaktoren

  • Unmotiviertes Kind

  • Schwierigkeiten in der Elternberatung oder in der Kooperation mit Lehrerin / Erzieherin

  • Seltene oder unregelmäßige Termine

  • Für jedes Kind dieselbe Therapie


11.4.4 Elternberatung

  • Grundlegender Bestandteil jeder Stottertherapie im Kindesalter

  • Eltern sollen Experten werden ï‚® Unterstützung und Entscheidung, wann wieder Therapie nötig ist.

11.4.5 Einzeltherapie und Gruppentherapie

  • Einzeltherapie: optimale Anpassung, v.a. bei kleinen Kindern; gut für die Genauigkeit bei motorischen Abläufen oder Wahrnehmung

  • Gruppentherapie: kontrollierte soziale Wirklichkeit ï‚® Enttabuisierung, Pragmatik, Selbstbehauptung, Transfer, Entlastung durch „Schicksalsgemeinschaft“, voneinander lernen

  • Prima: zunächst Einzeltherapie, später Gruppentherapie

  • Elterngruppen: ökonomische Informations- und Übungsmöglichkeit, Problembesprechung; kein Ersatz für Einzelberatung!

11.4.6 Nachsorge#

  • Begründung: Stabilität der Veränderungen nicht einschätzbar (Rückfälle, Unbrauchbarkeit von Coping-Strategien ...)

  • Ziele: Kinder rechtzeitig wieder erfassen, Unterstützung, die Rückfallproblematik zu bewältigen

  • Sinnvolle Maßnahmen: Eigenverantwortung fordern, früher Transfer, Informationen über Rückfälle, Auffrischsitzungen empfehlen

  • Zunehmend größere Abstände der Kontakte, auch brieflich oder telefonisch

  • Auffrischsitzungen: aktueller Stand der Symptomatik, Diskussion von Erfolgen und Schwierigkeiten, ggf. Therapieelemente wiederholen bzw. besser anpassen

  • Gute Bewältigung eines Rückfalls spricht für gute Bewältigungen weiterer Rückfälle.

  • Wiedervorstellungen zwecks Evaluation, bei Remission, einschneidenden Lebensveränderungen (Schulwechsel...)

11.4.7 Qualifikation der Therapeutin

  • angemessene Grundausbildung und Weiterbildung in Theorie, Diagnostik und Therapie von Stottern und SES

  • Qualifikation zu Therapieplanung, Reflexion der eigenen Fähigkeiten und Grenzen

  • Beraterische Basisqualifikation

  • Kontinuierliche Weiterbildung

  • Supervision, zumindest phasenweise

11.4.8 Einstellung der Therapeutin

  • Coping-Strategien als pragmatische Umgehensweise

  • Gelassene Haltung (Erfolgsdruck?)

11.5 Wirkungsweise, Evaluation, Effektivität

11.5.1 Wirkungsweisen der Stottertherapie

Beispiele für eine wechselseitige positive Beeinflussung von Kern- und Begleitsymptomatik in der Therapie:

Kernsymptomatik

Wechselwirkung

Begleitsymptomatik

  • Die Kernsymptomatik ist von Begleitsymptomen überlagert


 

  • Die Begleitsymptomatik nimmt ab, dadurch wird mehr Kernsymptomatik erkennbar.


 

  • Kernsymptomatik wird seltener und leichter


 

  • In der Elternberatung erarbeitete positive Zuhörerreaktionen


 

  • Wiederholt positive Erfahrungen in der Kommunikation


 

  • Erwartung, Symptome kontrollieren zu können


 

  • Bessere Selbstakzeptanz als stotternder Sprecher. Weniger Vermeideverhalten, geringere Sprechangst


 

  • Blocklösestrategien ersetzen Anstrengungsverhalten


 

  • Selbstbewusstsein als kompetenter Sprecher


Wechselwirkungen können positive, aber auch negative Auswirkungen haben.

Bild der Hantel: Kern- und Begleitsymptomatik können unterschiedliches Gewicht in der Symptomatik haben, dies gilt dann auch für die Therapie: es kommt darauf an, die Balance zu finden!

11.5.2 Evaluation und Effektivitätsnachweis

Meist fehlen Daten über Effektivität und Effizienz!

  • Effekt: Veränderung, die durch Therapie erzielt wird

  • Effektivität: Ausmaß der Veränderung, die durch die Therapie erzielt wurde, je nach Definition auch nur dauerhafte Effekte.

  • Effizienz: Ausmaß des nötigen Zeitaufwands und der therapeutischen Intervention für den gewünschten Erfolg.

  • Damit eine Therapie als erfolgreich bezeichnet werden kann, müssen ihre Effekte größer sein, als die, die sich in der Zeit auch so eingestellt hätten. Schwer zu messen, da keine Vergleichsgruppen möglich.

  • Die Variablen, die einen Therapieerfolg messen, können in subjektive und objektive Variablen unterschieden werden.

  • Um die Variabilität zu berücksichtigen („Rückfälle“), sind langfristig geplante Kontrolluntersuchungen („follow-up“- Untersuchungen) nötig.

11.6 Therapieerfolg

Der Therapieerfolg ist abhängig vom zugrundeliegenden Modell von Stottern und vom diesbezüglichen Therapieansatz. ï‚® vor der Therapie muss mit Eltern und Kind geklärt werden, was Therapieerfolg ist.

Je nachdem, ob es sich bei der Therapie um primäre, sekundäre oder tertiäre Prävention handelt, ist Therapieerfolg etwas ganz Unterschiedliches (Sandrieser / Schneider S. 64).

Generell sind Erfolgsversprechen unseriös und unethisch, da kein Verfahren allen Stotternden hilft. Eine Heilung von Stottern und durchgängig flüssiges Sprechen kann nicht als absolutes Therapieziel definiert werden.

Die Chancen einer Remission steigen bei einer Frühtherapie. Sie sinken bei genetischer Disposition, längerer Störungsdauer und bestimmten Risikofaktoren.

Therapieerfolg ist auch leichteres Stottern (durch funktionelle Coping-Strategien), was weniger belastet.

Symptomfreie Phasen dürfen nicht als Heilung angesehen werden, Rückfälle liegen in der Natur des Stotterns. Demnach ist auch ein Therapieerfolg, wenn ein Kind gelernt hat, mit Rückfällen kompetent umzugehen.

11.7 Bausteine

Verschiedenen Verfahren kommen aus verschiedenen Wissenschaften und haben demnach unterschiedliche Schwerpunkte.

Therapiebausteine“ decken nur einen Teilaspekt der Stottertherapie ab. Einzelfallbegründet müssen sie kombiniert werden (siehe Nr. 1-9).



 


 

Verfahren

Bereiche der Stottertherapie

Stotter-symptomatik

Psychische Reaktionen auf Stottern

Risiko-faktoren

  • Vertragskonzept


 

X


 

  • Elterberatung


 

X

X

  • Pseudostottern

X

X


 

  • Verlangsamung der Kommunikation

X


 

X

  • Sprechfreude und Selbstvertrauen


 

X

X

  • Pragmatische Kompetenz, Selbstbehauptung und Problemlöseverhalten


 

X

X

  • Gruppentherapie


 

X


 

  • Desensibilisierung


 

X


 

  • Enttabuisierung von Stottern


 

X


 

  • Rustins Interaktionstherapie


 


 

X

  • Antwerpener Konzept


 

X

X

  • KIDS – Kinder dürfen stottern

X

X


 


11.7.1 Vertragskonzept

Klare Vereinbarung über Therapieziel und geschäftliche Rahmenbedingungen als Vertrag zwischen Eltern, Kind und Therapeutin mit dem Ziel der absoluten Offenheit und Transparenz. Verantwortung für den Therapieerfolg, Kooperation, Motivation und Eigenverantwortung werden formuliert und gefördert.

Der Vertrag umfasst Ziele, Vorgehensweisen und Bedingungen der Therapie. Übergeordnete Verträge, die erst im Laufe der Therapie verfasst werden, regeln Rahmenbedingungen und Ziele, Inhalte, Vorgehensweisen und Grenzen der beabsichtigten Therapie.

Im Verlauf einer Therapie werden viele kleine Verträge geschlossen, auch mündlich.

Verträge müssen ggf. modifiziert werden.

Bei Dreiecksverträgen bestehen Verträge zwischen allen drei Parteien (Eltern, Kind, Therapeutin). Beispiele für solche Absprachen finden sich bei Sandrieser / Schneider Seite 119.

Geheime Anliegen (z.B. Wunsch nach absoluter Stotterfreiheit, Wunsch nach Tabuisierung) sind ausschlaggebend für den Verlauf der Therapie, solange sie nicht offengelegt werden.

Im Fall unkooperativer Eltern kann auch allein mit dem Kind etwas vereinbart werden und eine gute Zusammenarbeit entstehen. Ggf. muss auf die Hilfe anderer Erwachsener (z.B. Lehrerin ,die das Kind an den Termin erinnert) zurückgegriffen werden.

Formale Kriterien für Verträge:

  • Formulierung der Zielvorstellung einfach, konkret und positiv

  • Definition des Angebots der Therapeutin und der Eigenaktivitäten des Patienten

  • Überprüfung, ob die Vertragsinhalte realistisch sind und auch gefühlsmäßig gutgeheißen werden

11.7.2 Elterberatung

  • In fast allen Therapiekonzepten wichtig, aber Umfang, Ablauf und Zielsetzung sind unterschiedlich, oft als stützender Faktor betrachtet.

  • Eltern geben auch wichtige Informationen über das Kind und das Stottern.

  • Heute werden Eltern aufgeklärt, da die Tabuisierung als aufrechterhaltender Faktor erkannt ist. Die Thematisierung in angemessener Weise verschafft oft Erleichterung.

  • Nach Beginn der Therapie kann sich das Stottern v.a. zuhause verstärken, da die Kinder unbekümmerter drauflosreden. Auch deshalb müssen die Eltern informiert und einbezogen werden.

Ziele der Elternberatung:

  • Eltern sollen Therapie gutheißen und unterstützen.

  • Sie sollen Fachleute im Bereich Stottersymptomatik werden, um unabhängig von der Therapeutin zu werden.

  • Sie sollen über psychische Reaktionen informiert sein, angemessen auf sie reagieren und mit ihnen umgehen können.

  • Im Bereich Risikofaktoren sollen die Eltern andere Personen anleiten und informieren können, Modelle zur Entstehung und Aufrechterhaltung kennen und daraufhin Risikofaktoren erkennen, bewerten und verändern können.

  • Unterschieden werden Elternberatung, Elterntraining und Anleitung zur Co-Therapie, je nach Therapiekonzept angewendet. Einzel- und Gruppenarbeit, kleine und große Abstände, Termine mit und ohne Kind sind je nach Fall möglich.

  • Verschiedene Methoden bei Sandrieser / Schneider Seite 123.

11.7.3 Pseudostottern

  • Stottern mit Absicht, kann von Kind und Therapeutin eingesetzt werden.

Positive Effekte:

    • Gelegenheit, um motorische Abläufe beim Stottern zu kontrollieren

    • Angstabbau bzgl. Kernsymptomatik

    • Abbaus von Perfektionsanspruch an das eigene sprechen (Erlaubnis zu stottern)

    • Unempfindlicher machen gegen Zeitverlust durch Stottern

    • Enttabuisierung von Stottern

    • Verbesserung des Selbstbewusstseins als stotternder Sprecher

    • Reduktion der Stotterhäufigkeit

  • Meist erfolgt durch den Verlust der Angst vor dem Stottern eine Steigerung der Häufigkeit, danach aber eine Reduktion

Kriterien für richtiges Pseudostottern:

    • Anstrengungsfreie langsame Teilwortwiederholungen oder Dehnungen

    • Ohne Schwa-Laut in natürlicher Lautstärke

    • Mit weicher Artikulation

    • Mit angemessenem Blickkontakt

Einsatzmöglichkeiten:

Bereich

Therapeutin

Kind

Spontansprache in der indirekten und direkten Therapie

Modell vom lockeren Stottern und gelassenem Umgang damit;

Ggf. Modell, wie angestrengte Symptome aufgelöst werden können

Ggf. spontane Imitation; Thematisierung zu Hause oder in der Therapie

Übungen zur Symptomatik in der direkten Therapie

Modell für Selbstwahrnehmung, Imitation und Veränderung von Symptomen; Rückmeldung durch Imitation von Symptomen

Selbstwahrnehmung, Imitation und Veränderung von Symptomen

  • Ziel ist, dass das Kind lockerer stottert und Stottern thematisiert.

  • Sinnvoll ist es, in jeder zweiten oder dritten Äußerung ein Pseudostottern zu zeigen.

  • Die Reaktionen des Kindes zeigen, wie es das Stottern erlebt (s.a. RSU). Die Reaktionen der Therapeutin sollten in jedem Fall akzeptierend sein.

  • Manchmal wollen auch die Eltern das Pseudostottern nutzen. Bei einer guten Einweisung und Einübung ist dies sehr sinnvoll, da die negativen Emotionen nicht zum Tragen kommen können bzw. abgebaut werden.

  • Pseudostottern in Übungen trainiert die Selbstwahrnehmung und die bewusste Kontrolle von Symptomen. Die Häufigkeit wird zunächst verstärkt, reduziert sich dann jedoch. Die Arbeitsschritt sollten hierarchisch nach Peinlichkeit und Kontrollverlust gegliedert sein.

11.7.4 Verlangsamung der Kommunikation

Die Therapeutin verlangsamt die Kommunikation durch ihr Sprechmodell und ihr Kommunikationsverhalten. Dadurch bekommt das Kind genügend zeit zum Formulieren und Aufmerksamkeit.

Kriterien für ein günstiges Sprechmodell sind ein langsames Sprechtempo, weiche Stimm- und Artikulationseinsätze und kurze einfache Äußerungen.

Kriterien für ein verlangsamtes Kommunikationsverhalten:

  • Aktives Zuhören

  • Parallel Talking

  • Corrective Feedback

  • Deutlich geringere Redeanteile als das Kind

  • Reduktion kommunikativer Stressoren, z.B. kein Zeitdruck, keine Unterbrechungen, keine Warum-Fragen

  • Pausen beim Sprecherwechsel

  • Blickkontakt dem Kind zugewandt

  • Behutsame Einführung kommunikativer Stressoren bei stabiler Sprechflüssigkeit

11.7.5 Sprechfreude und Selbstvertrauen

Die Arbeit an Sprechfreude und Selbstvertrauen wirkt sich auf die psychischen Reaktionen auf Stottern und die psychischen Risikofaktoren aus und kann sogar indirekt positive Einflüsse haben.

  • Selbstvertrauen ï‚® Kind vertraut darauf, etwas zu sagen zu haben

  • Sprechfreude ï‚® Kind sagt gern, was ihm wichtig ist

Antithetisches Verhalten ist Verhalten, das den Erwartungen bezüglich „richtigem Verhalten“ widerspricht (z.B. bei einem schnell arbeitenden Kind besonders viel Zeit nehmen, bei einem Kind mit Perfektionismusanspruch Fehler machen, Pseudostottern...). Die daraus folgende Verunsicherung bewirkt (in einer guten Beziehung) eine Auseinandersetzung und vielleicht Modellübernahme.

Erlaubnisarbeit ist das Ernstnehmen der Anliegen und Verhaltensweisen des Kindes: es wird trotzdem eine positive Beziehung angeboten. Verhaltensweisen des Kindes werden mit positiven Reaktionen beantwortet. Natürlich wird nicht alles angenommen, sondern das Kind wird geschützt, damit es weder sich noch andere noch das Spielmaterial gefährdet. Nur wenn das Kind die Sicherheit hat, dass die Therapeutin auf Schutz achtet, kann es sie und ihre Erlaubnisse ernst nehmen. Grenzen setzen bekommt eine positive Bedeutung. Allerdings muss die Therapeutin mit sich selbst kongruent sein, um glaubwürdig zu sein.

Schwierigkeiten auf der Beziehungsebene können Folgen sein. Am wichtigsten ist es, dem Kind zu vermitteln, dass es ernst genommen wird, auch, wenn es sich nicht mit dem Stottern auseinandersetzen will. Ggf. ist Supervision hilfreich.

11.7.6 Pragmatische Kompetenz, Selbstbehauptung und Problemlöseverhalten

  • Geringe Fähigkeit zur Selbstbehauptung und zum Problemlösen und eine geringe pragmatische Kompetenz kann Risikofaktor und Folge von Stottern sein.

  • Eine Verbesserung der pragmatischen Kompetenz bewirkt, dass das Kind weniger stark auf soziale Auslöser für Stottern reagiert.

  • Die Bausteine Pseudostottern, verlangsamte Kommunikation sowie Sprechfreude und Selbstvertrauen tragen indirekt dazu bei, die pragmatische Kompetenz, die Selbstbehauptung und das Problemlöseverhalten zu verbessern.

  • In der Einzeltherapie kommen die o.g. Faktoren kaum zur Geltung ï‚® Freunde einladen!

  • Zur direkten Arbeit eignen sich z.B. strukturierte Problemlösediskussionen (Therapeutin oder Kind geben Thema vor, das bearbeitet wird, z.B. „ich traue mich nicht, mich zu melden“, Handlungsmöglichkeiten werden in einem Problemlöseraster erarbeitet; oder: Mitschüler werden im Hinblick auf ihre Bedrohlichkeit betrachtet („Stachelbild“), Rollenspielarbeit und Gruppentherapie.

11.7.7 Gruppentherapie

  • 3-6 Kinder ohne große Entwicklungsdifferenzen, Jungen und Mädchen zusammen

  • Kinder sollten Therapeutin schon kennen

  • Kinder mit starkem Konkurrenzverhalten (z.B. Geschwister) sind problematisch in der Gruppe

  • Wesentliche Ergänzung zur Einzeltherapie

  • Kontrollierbares soziales Übungsfeld, ermöglicht soziale Kontakte

  • Erfahrungsaustausch

  • Lernprozesse werden in Gang gesetzt

  • Sprechanlässe

  • Einfachere Enttabuisierung und Relativierung des Stotterns

  • Einfachere Desensibilisierung gegen Auslöser

  • Transferübung


Arbeitsbereiche:

Hauptaufgabe der Therapeutin ist es, die Sitzung vorzustrukturieren und zu entscheiden, ob die Planung oder das Gruppengeschehen Vorrang haben soll. Sie sorgt für den Schutz des Einzelnen durch Grenzen und Regeln, die in der Gruppe erarbeitet wurden.

Die Inhalte können sehr verschieden sein (siehe Sandrieser / Schneider Seite 134).

11.7.8 Desensibilisierung

  • Systematische Desensibilisierung gegen Ängste aus der Verhaltenstherapie: Steigerung der Stärke der Angst auslösenden Reize unter entspannten Bedingungen.

  • Wirksam in den Bereichen psychische Reaktionen und Risikofaktoren

  • Ziel: Angstreaktionen auf das Stottern abbauen (ausgelöst durch Kernsymptomatik und damit verbundenen Kontrollverlust, negative Reaktionen, Thematisierung, Stressoren...)

  • Vorgehen: möglichst geringe Stärke des angstauslösenden Reizes unter möglichst entspannten Bedingungen.

  • Erfolg ist, wenn Kind seine Haltung gegenüber dem Stottern verändert hat.

  • Desensibilisierung auch bei den Eltern nötig!

  • Stufen der Desensibilisierung und genauere Erläuterungen bei Sandrieser / Schneider Seite 137.

11.7.9 Enttabuisierung von Stottern

  • Tabuisierung ist wesentliche Ursache für die Entstehung von Vorurteilen (Ausdruck von Scham)

  • Ziel: Stottern behutsam „besprechbar“ zu machen.

  • Grad des Unwohlseins lässt sich per RSU herausfinden.

  • Das Thematisieren des Stotterns ist weniger verletzend als die Reaktionen von Gleichaltrigen auf die Symptome (Dell 1995)!!!!!

  • Die Reaktionen sind vielfältig

  • Zu schnelles Vorgehen treibt das Kind in die Defensive: kontraproduktiv!

  • Grundlegende Methoden: enttabuisierende Erlaubnisarbeit (siehe 11.7.5) und Wissensvermittlung.

  • Wissen ermöglicht dem Kind, selbstsicher und begründet zu handeln.

  • Relevante Informationen sind z.B.

    • Stotternde sind normal

    • Stottern ist eine Störung ausschließlich des Sprechens

    • Im Stottersymptom erlebe ich spezifische Schwierigkeiten

    • Ich kenne die Ziele der Therapie und weiß, warum ich da bin

    • Auch mit Stottern bin ich ein kompetenter Gesprächspartner

    • Stottern ist kontrollierbar

    • Ein anderes Familienmitglied hat einmal gestottert oder tut es heute immer noch

    • Ich bin mit dem Stotetrn nicht allein

    • Auch mit Stottern hat man Lebensperspektiven

    • Viele haben keine Ahnung und handeln verletzend, weil sie Vorurteile haben

    • Stotternde können selbst dazu beitragen, dass Vorurteile bei Gesprächspartnern abgebaut werden

  • Das Kind soll andere über sein Stottern informieren können.

  • Wenn Eltern mit ihrem Kind sprechen, wird die Enttabuisierung unterstützt.

11.8 Therapieansätze

„Therapieansätze“ sind die Kombination mehrerer Bausteine zu einem theoretisch begründeten mehrdimensionalen standardisierten Vorgehen. Sie müssen so beschrieben sein, dass sie auch ein anderer Therapeut durchführen kann. Dazu gehört ein strukturierter Aufbau, eine begründete Auswahl von Übungen, Materialien und Hilfestellungen sowie Angaben zu möglichen Effekten der einzelnen Interventionen.

In Sandrieser / Schneider werden lediglich Teile von Therapieansätzen dargestellt.

11.8.1 Rustins Interaktionstherapie

  • Von Lena Rustin 1991

  • Therapieansatz zur Behandlung von Kindern ab Stotterbeginn bis ins Jugendalter mit einem indirekten Ansatz.

  • Die Interaktionstherapie ist Teil eines Gesamtkonzeptes, das verschiedene alternative Maßnahmen vorsieht: Elternberatung, Interaktionstherapie mit Eltern und Kind gemeinsam oder eine Intensiv-Therapie allein mit dem Kind und begleitender Elternberatung

Theoretische Grundlagen:

  • Multifaktorielles (linguistisch, kognitiv, psychosozial) Modell des kindlichen Stotterns, psychosoziale Komponente (insbesondere Eltern-Kind-Interaktion) im Vordergrund

  • Ziele: sekundäre Prävention durch frühe Intervention; Eltern Vertrauen in ihre Fähigkeiten als Eltern zurückgeben

  • Direkte Arbeit mit den Eltern soll indirekt Veränderungen im Sprechendes Kindes des Kindes initiieren.

  • Das Sprechverhalten von Eltern stotternder Kinder ist verändert. Ursache oder Folge? ï‚® Forschung nötig

  • Qualität und Quantität der Stottersymptome verändern sich in Abhängigkeit von der Gesprächssituation du damit auch von Gesprächspartner ï‚® Familie einbeziehen (beide Eltern, Geschwister ab 4 Jahren!!)

Interaktionstherapie

Grundgedanke: Eltern bekommen die Verantwortung für den Inhalt und das Ausmaß der Veränderungen: vorhandene günstige Verhaltensweisen werden verstärkt

  • 6 Wochen Therapie

  • Es gibt einen Therapievertrag

  • „Sprechzeit“: 5-7mal pro Woche 3-5 Minuten intensives Gespräch zwischen Eltern und Kind

  • „Aufgabenzeit“: Eltern führen Aufgaben zur Selbstbeobachtung oder Verhaltensänderung durch, max. 5 Minuten; genaue Instruktion, Protokoll, Videoanalyse mit Eltern und Therapeutin

  • 6-8 Wochen Stabilisierungsphase zwecks Transfer

  • 6 Monate lang Kontrolltermine ï‚® Entscheidung, ob direkte Therapie

Bewertung:

 frühe Intervention zwecks sekundärer Prävention

Anpassungen die individuellen Notwendigkeiten

Pragmatisch und ressourcenorientiert

 keine Vorbereitung auf die Möglichkeit der Chronifizierung

11.8.2 Elternarbeit im Antwerpener Konzept

  • von René Stes und Ronnie Boey

  • kognitiv-sozialer Ansatz, der Eltern und Umgebung einbezieht und verhaltenstherapeutische Elemente enthält.

  • Beispiel für Elternarbeit bei einer direkten Therapie

  • Grundgedanke: Dynamik in der Entwicklung des Stotterns beenden und soweit wie möglich rückgängig machen. Lernvorgänge, die zur Entstehung und Aufrechterhaltung der Begleitsymptomatik führen, werden durch das Kind und die Umgebung gesteuert ï‚® Einbindung

Theoretische Grundlagen:

  • Bedingung: genetische Disposition und neurophysiologische Dysfunktion.

  • Begleitsymptomatik ist erlernt (operantes Konditionieren und Modell-Lernen)

  • Früherkennung und Frühtherapie sind fachlich und ethisch sinnvoll und wichtig

Gesamtkonzept:

  • Therapiebeginn sofort nach Diagnosestellung durch Eltern.

  • Therapie (2mal pro Woche) für das Kind + begleitende Elternberatung und Elterntraining

  • Diagnostik: Elterninterview, Spontansprachanalyse, Erfassung der Einstellungen zum Sprechen und zum Stottern

  • Kernstück der Therapieplanung ist Bedeutungs- und Funktionsanalyse (sichtbare und verdeckte Meinungen, Gefühle und Verhaltensweisen)

  • Elterntraining: Ziel ist, aufrechterhaltende Umgebungsfaktoren abzubauen und Bedingungen zu schaffen, die eine Remission begünstigen oder funktionelles Coping ermöglichen. Methode ist, Lernvorgänge zu beeinflussen. 6-8 Elternpaare, 15 Abende in dreiwöchigem Abstand

Bewertung:

 entspannteres Gesprächsverhalten und bessere Zuhörereigenschaften nach

dem Elterntraining

gute Ergänzung der Einzeltherapie

 hohe Qualifikation der Therapeutin nötig

institutionelle Voraussetzungen müssen gegeben sein

große Anzahl an Teilnehmern nötig

Teamarbeit der Therapeutinnen nötig, damit Elterntraining und Kindertherapie

kombiniert wirksam

11.8.3 KIDS – Kinder dürfen stottern

  • Von Peter Schneider

  • Direkte Arbeit am Symptom für Kinder ab 5 Jahren

  • Erarbeitet aus Ansätzen von Van Riper und Dell

Theoretische Grundlagen:

  • Erlaubnisarbeit mit Erleichterung des Stotterns ï‚® Remission oder angemessener Umgang mit dem Stottern

  • Teilbereiche: Stottersymptome, psychische Reaktionen, Risikofaktoren

  • Qualität der Symptome soll verändert werden durch erhöhte Selbstsicherheit und verbesserte sensomotorische Voreinstellung ï‚® emotionale Anforderungen verringert und sensomotorische Fähigkeiten im Sprechen gestärkt ï‚® Gleichgewicht erhöht Chancen für eine Remission

Gesamtkonzept:

  • Voraussetzung: Kind muss bereit sein für die Thematisierung (etwa ab 5 Jahren)

  • Drei Elemente: Identifikation, Modifikation und Stabilisierung mit Generalisierung

  • Dauer: ½ bis 2 Jahre

Arbeit am Symptom:

  • Ziel: Zunahme der spontanen Sprechflüssigkeit und Etablierung von akzeptablem Stottern + selbstbewusster Umgang

  • Zur Durchführung siehe Sandrieser / Schneider Seite 153 ff ( Identifikation, Modifikation, Stabilisierung)

Bewertung:

 große Wirksamkeit (Verringerung von Häufigkeit und Schweregrad und

Reduktion von negativen psychischen Reaktionen)

Je früher begonnen, desto kürzer und weniger aufwändig

 

11.8.4 Einige Grundprinzipien nach Conture 1995

  • Wichtig ist, herauszufinden, welche Kinder Therapie brauchen.

  • Veränderungen im Sprechen der Eltern können Wahrscheinlichkeit, dass ein Kind stottert, verringern (langsames Tempo, kurze und wenig komplexe Sätze, Pausen zwischen den Beiträgen der Gesprächsteilnehmer, Eingehen auf Themen des Kindes, keine Kritik)

  • Regeln für das Sprechen zu Hause für alle Familienmitglieder:

    • zuhören, wenn die anderen sprechen

    • nicht für die anderen sprechen

    • die anderen nicht unterbrechen

  • Therapeutische Aufgabe: Eltern Unterschied zwischen Ursache, Verschlimmerung und Aufrechterhaltung des Stotterns erklären ï‚® Entlastung von Schuldzuweisungen

  • Wenn Verhalten der Kinder durch Eltern nicht beeinflussbar ist, ist es auch durch Therapeuten nicht beeinflussbar

  • Wenn Therapieansatz nicht funktioniert: Veränderung nötig

11.8.5 Therapieansätze im Überblick

Zu jedem steht ein Extra-Aufsatz im Handbuch von Grohnfeldt!

  • Biokybernetischer Ansatz

  • Computerunterstütze Stottertherapie

  • Erlernen neuer Sprechformen

  • Bewegung als Hilfe zu flüssigem Sprechen

  • Atmung und Entspannung

  • Persönlichkeitsorientierte Stottertherapie

  • Stottern als Redeabstimmungsstörung: Training des „Erst Rede planen, dann sprechen“

  • Gesprächstherapie

  • Elternarbeit

  • Familientherapie

  • Non-avoidance-Therapie

11.9 Fazit von Mayer 1996:

  • möglichst frühe Behandlung

  • auch bei ,,harmlosen" / weniger schweren Symptomen: zumindest Beratungsgespräch und weitere Beobachtung

  • Übergang zwischen direkter und indirekter Therapie fließend; nicht das Alter, sondern Häufigkeit und Schwere der Symptomatik sind Kriterium für die Methodenwahl

  • Stottern sollte nicht nur, aber auch symptomorientiert therapiert werden (Bedeutung der positiven Verstärkung)

  • Große Bedeutung der Elternarbeit: Eltern als wichtigste Helfer ï‚® Sorgen und Unsicherheit der Eltern ernst nehmen!

Coping

Wirkungsvolle funktionelle Coping-Strategien können auf folgenden Ebenen beobachtet werden:

  • Emotionen und Einstellungen: Selbstakzeptanz und geringe negative Emotionalität in Verbindung mit Stottern; große Toleranz gegenüber Zeitdruck und negativen Zuhörerreaktionen;

  • Verhalten/Sozialverhalten: Situationsangemessenes Kommunikationsverhalten; Fähigkeit, Stottern angemessen zu thematisieren und den Kommunikationspartner im Umgang mit Stottern zu unterstützen; Fähigkeit, sich gegenüber negativen Reaktionen zu behaupten;

  • Sprech- und Stotterverhalten: Eine natürliche Sprechweise, d.h. flüssiges Spre­chen in angemessenem Rhythmus und ohne große Anstrengung;

  • Sprachliche Ebene: Keine Satzabbrüche, Umformulierungen, Interjektionen etc., um Stottern zu vermeiden;

  • Motorik: Strategien zur Symptombearbeitung, die sich auf eine Verlangsamung der normalen Artikulationsabläufe unter taktil-kinästhetischer Kontrolle beschränken.

Die Entwicklung dysfunktioneller Coping-Strategien, d.h. der belastenden Begleitsymptomatik, wird begünstigt durch

  • den ständigen Wechsel von Stotterhäufigkeit und -stärke. Stotternde Kinder und ihre Eltern werden dadurch immer wieder in ihren Hoffnungen enttäuscht, dass die Störung vorüber sei;

  • ungünstige emotionale Rektionen der Eltern und anderer Personen im Umgang mit dem Stottern ihres Kindes (z.B. starke Schuldgefühle, Scham);

  • ungünstige Reaktionen der Umgebung auf das Stottern, z.B. Entzug der Aufmerksamkeit auf der Inhaltsebene, Beschämung, Ermahnung zum langsamen Sprechen;

  • mangelnde oder falsche Kenntnisse der Bezugspersonen über das Stottern;

  • ungünstige Umgebungsfaktoren wie Zeitdruck, Unruhe, schlechtes Zuhörerverhalten;

  • das Temperament des Kindes (z.B. Schüchternheit) und seine Problemlösestrategien.

11.10 Allgemeines, auch als Zusammenfassung?

  • Vielzahl von Therapieansätzen und behandelnden Berufsgruppen, (lt. Motsch 220 wissenschaftlich anerkannte Methoden, z.B. Hausdörfer Methode (Tönen und Hören, Sprechfreude wecken), „Wuschelbär“ (Bär führt in langsame, betonte und weiche Sprechweise ein) usw., !!) Konsens: theoriegeleiteter, individuell ausgerichteter Mehrebenen-Ansatz mit zielorientiertem und sinnvollem Kombinieren der Möglichkeiten

  • verschiedene Behandlungs- und Betreuungsformen (Dauer, Häufigkeit usw.)

  • Therapieerfolg immer relativ, Heilung selten, Ziel: stotterfreies Sprechen/flüssiges Stottern (Baumgartner 1999)

  • Rolle von Klient und seinem sozialen Umfeld, Therapeut und therapeutischer Beziehung: Problemanalyse, Selbstlernaktivität berücksichtigen, Entwicklungs- und Kommunikationsbezogenheit, Kindgemäßheit, Nutzung aller Sprachlernpotentiale (Baumgartner 1999)

  • indirekte Therapie: Förderung der Kommunikation, Kapazitäten stärken, Arbeit mit Bezugspersonen, z.B. Ansatz von Katz-Bernstein, Wendlandt: Non-Avoidance Prinzipien, Veränderung von Sprechmuster und Selbstkonzept

  • direkte Therapie: Ausweitung des flüssigen Sprechens, z.B. Onslow, Veränderung des Sprechmusters (Baumgartner, Iven, Van Riper,...), Kind muss Stottern reflektieren. Die Etablierung des flüssigen Sprechens erfolgt nach und nach. Es findet eine hierarchische Gliederung der Prinzipien in Sinne der Reduktion des Komplexitätsgrades der kindlichen Äußerung statt: Einwort-Satz-Nacherzählung-Monolog-Dialog-Alltagskommunikation. Am Anfang steht der Aufbau der Diskriminierungsfähigkeit zwischen weich und hart, lang und kurz, leicht und schwer gesamtkörperlich erfahrbare Qualität.

Vorteile: v.a. für Kinder (sind noch nicht habituisiert, spielen tabulos mit Sprache), Transfer findet spontan statt, direkte Art wird im Spiel oft indirekt, Stottern wird enttabuisiert, Hilfen können im Alltag angewendet werden, Eltern können unterstützen, Ziele werden von Betroffenen und Therapeut individuell bestimmt. Ziel: im Rahmen der Erlebniswelt des Kindes Sprachsituationen zu schaffen, in denen die Kinder Vertrauen in ihre eigenen Kompetenzen und in die Reaktionen ihres Umfeldes entwickeln können (z.B. im Schneckenland, Zeitlupenbande) Therapeutenverhalten hat Modellcharakter.

Medien: Sprechtechnik im Rahmen der Spielhandlung über alle Sinneskanäle: Flüstertüten, Pappröhren, Gummibänder, Zauberschnüre zur Dehnung, Schildkröten, Schnecken, Ziehharmonika, Schlafmützen, Kuscheltiere, Handpuppen usw.

  • Elternarbeit sollte immer begleitend sein! (Scherer, Irwin: nur Elternarbeit)

Baumgartner 1998

Das Ideal der ganzheitlichen Sprachtherapie wird durch den Aufbau „flüssiger Kommunikationsfähigkeit“ am deutlichsten verwirklicht: Der Therapeut modelliert den weicheren Stimmeinsatz und das verringerte Sprechtempo. Situationsangemessenes Vor- und Nachstrukturieren gemeinsamer Tätigkeiten ziel systematisch auf Sprechleistungen, die der Schüler flüssig bewältigen kann. Ein gezieltes Feedback überzeugt ihn von seiner Sprechfähigkeit. Der Therapeut ermutigt zur Veränderung, sorg für Transparenz der Ziele, leitet zur Selbsthilfe an. Motor der Lernmotivation sind die kommunikativen Absichten des Schülers und das den Sprecherfolg garantierende strukturierte Sprachhandlungsangebot des Pädagogen. Ziel sind offene Dialoghandlungen in realen und inszenierten Situationen. Konstruktive Kommunikation ist gefragt.

Aber: wie Rothe erkannt hat: es besteht die Gefahr des beliebigen Methodenpluralismus, dem Laissez-faire-Stil. Durch die Betonung der Sprachautonomie und die relativ geringe Einflussmöglichkeit sprachtherapeutischer Verläufe wird oft vergessen, dass es auch Kinder gibt, die einer gezieltere und systemischere Instruktion bedürften und die Eigenhilfe eben nicht zum selbständigen Sprachlernen nutzen können.

ï‚® engere, sprechübende Verfahren gehören deshalb auch in das Therapieinventar der Sprachheilpädagogik!

ï‚® Die Anstrengung, das Komplexe des Stotterns in seiner Totalität erfassen zu wollen, Sprachtherapie ganzheitlich und systemisch zu gestalten, stößt an Grenzen!!!

ï‚® Therapie ist eine umgrenzte Dienstleistung, die möglichste effektiv, transparent und qualitativ gut auszuführen ist.

Baumgartner 1999
  • Die personenbezogene Auswahl eines oder mehrerer der genannten Ziele reflektiert:

  • die Komplexität und Dynamik des Stotterns,

  • die jeweils individuelle Konstellation neurolinguistischer, linguistischer und psychologischer Entwicklungsbedingungen,

  • die Wechselwirkung mit der familiären, schulischen, therapeutischen, gesellschaftlichen und kulturellen Realität.

  • In einem Impulsbeitrag formulierte Starkweather (1993) aus der Analyse einer konzeptionell wie handlungspraktisch widersprüchlichen Therapiesituation heraus einige von ihnen, z.B. die Reduktion

  • der Häufigkeit des Stotterns,

  • der kognitiven und motorischen Anstrengung beim Stottern und der damit verbundenen Dauer des Stotterns,

  • des stotterverstärkenden Vermeidungsverhaltens,

  • individueller und interaktionaler Lernprozesse, die das Stottern verstärken und aufrechterhalten (z.B. die Sprechflüssigkeit unterbrechende Reaktionen der Eltern, negative Einstellung zum Stottern),

  • negativer Überzeugungen, die das flüssige Sprechen ungünstig beeinflussen (z.B. Perfektionismus und Intoleranz gegenüber der Unflüssigkeit),

  • von Ängsten, die das Stottern begleiten, sowie von Sprech- und Kommunikationsangst, die sich nicht unbedingt auf das Stottern beziehen.

  • Differenzierend stellt Starkweather Ziele auf wie

  • Hilfen bei der Bewältigung des Sprechens und sozialer Situationen im Alltag,

  • Veränderung des Zuhörverhaltens,

  • die Zunahme der Häufigkeit des Sprechens und sonstiger sozialer Aktivitäten,

  • zusätzliche Maßnahmen, wenn z.B. Stimmstörungen, Lernbehinderungen, andere sprachliche Auffälligkeiten und psycho-emotionale Störungen diese erfordern,

  • die Beratung und Instruktion der Eltern

12. Bewältigung

(Punkt 12 komplett von Weikert)

  • Stottern kann zu außergewöhnlicher Belastung für Betroffene werden (ganze Lebensabschnitte (z.B. Schule, Beruf) können beeinflusst werden, im Alltag wird ständig versucht Gesprächssituationen aus dem Weg zu gehen)

  • Bewältigung kann nur als ein fortlaufender Prozess verstanden werden, der dem Einfluss verschiedener Faktoren unterliegt ( wichtig für Diagnose und Therapie!)

  • vorauslaufende Bedingungen (Biographie, bisherige Erfahrungen mit dem Stottern, bisherige Bewältigungsstrategien,...)

  • nachfolgende Bedingungen (Konsequenzen des Bewältigungsverhaltens,...)

  • Charakteristika der Sprechstörung Stottern (typische Belastungsmerkmale,...)

  • soziokulturelle und soziale Bedingungen (Bewertung des Stotterns, soziale Integration, Unterstützung,...)

  • Persönlichkeit (physische und psychische „Ausstattung“ des Menschen, Persönlichkeitsmerkmale, Ressourcen,...)

  • intrapsychische Verarbeitungsprozesse (kognitive, emotionale und motivationale Verarbeitungsstrategien einer Person, interne Bewertungsprozesse,...)

  • viele Bewältigungsverhaltensweisen stellen keine effektiven Strategien im Umgang mit dem Stottern dar, tragen nicht dazu bei, Belastungen zu reduzieren

  • Ziele bei der Bewältigung des Stotterns:

  • Erhöhung des subjektiven Wohlbefindens

  • Verbesserung der Lebensqualität

  • Für Betroffene ist es wichtig, mit Sprechtechniken und/oder anderen therapeutischen Maßnahmen wieder die Kontrolle über das Sprechen zu erlangen

Vermeidungsverhalten

  • Fluchtverhalten (Verlassen einer Gesprächssituation)

  • Vermeidungsverhalten (Verhaltensmuster, durch die es von vorneherein gelingt, unangenehmen Situationen aus dem Weg zu gehen, also best. Gesprächssituationen gar nicht erst zulassen)

  • Vermeiden von angstauslösenden Reizen (Wörter, Situationen, Personen) ist Hauptproblematik im Jugend- und Erwachsenenalter

  • Grenzen zwischen Flucht- und Vermeidungsverhalten sind fließend

  • Vermeidungsverhalten kann sich auf verschiedene Ebene beziehen: sprachliche, soziale, kommunikative, kognitive (z.B. neg. Selbstbewertung) und nonverbale Ebene (z.B. Vermeiden des Blickkontaktes) und Lebensseinstellung (Bewältigung des Stotterns kann zur alles bestimmenden Linie im Leben werden, auch zu Alibifunktion bei unterschiedlichen Problemen)

  • Kaschierung des Stotterns (manche entfalten Ideenreichtum an Strategien)

  • Der ständige Versuch, belastende bzw. angstauslösende Ereignisse zu vermeiden, stellt für die meisten Betroffenen eine Akt höchster Anspannung und Anstrengung dar

  • Gefühle von Hilflosigkeit und Inkompetenz

Angst vor dem Stottern

  • Angst sich zu blamieren, auszugrenzen, Angst vor Lauten und Wörtern, vor Personen und Situationen (Schulklasse, Telephon)

  • Kernproblem ist nicht Angst vor dem Stottern sondern Angst vor den sozialen Folgen des Stotterns

  • Sprechangst tritt nicht nur bei Stotternden sondern manchmal auch bei Nicht-Stotternden auf

  • ob und in welchem Ausmaß Sprechangst empfunden wird hängt wesentlich von inneren Bewertungsprozessen ab

  • für das Entstehen sind v.a. negative Kommunikationserfahrungen bedeutsam

13. Prognose

(Kiese-Himmel 1996)

Stottern kann kontrolliert werden.

Die Prognose des Stotterns ist aber ungünstig,

  • wenn es auch in kleinen linguistischen Einheiten (Laut, Silbe) auftritt,

  • wenn es einen hohen Grad an Generalisierung hat (d.h. in vielen Kommunikationssituationen und bei vielen Gesprächspartnern),

  • wenn es mit Kontaktangst und Vermeidungsverhalten einher geht und / oder

  • wenn erfolglose oder abgebrochene Behandlungen vorausgegangen sind.

Der größte Teil der erwachsenen Stotternden kann Verbesserungen der Sprechflüssigkeit erwarten, aber nicht unbedingt dauerhafte, völlige Symptomfreiheit. Dies dem Patienten zu verheimlichen, ist vielleicht eine Ursache für das Scheitern vieler Therapien bei erwachsenen Stotternden.

Realistisch ist nach Fiedler (1993) „fließenderes Sprechen bzw. flüssiges Stottern“, also vor allem die Erfahrung der grundsätzlichen Veränderbarkeit in der Therapiesituation. Danach sind die Problemlösefähigkeit und Kommunikations-verantwortlichkeit gefordert. Die Gefahr, lebenslang ein potentieller, situationsabhängiger Stotternder zu sein, ist relativ groß.

1 Größere Bewegungseinheit aus vielen kleinen Bewegungseinheiten

2 Engl. to cope with = mit etwas fertig werden

3 z.B. Missbrauch

4 Kinder passen sich der Antwortlatenz-Zeit von Erwachsenen an ï‚® Zeitdruck ï‚® schnelleres Sprechen ï‚® höhere motorische Anforderung ï‚® Unflüssigkeit

5 dies nutzen Entspannungtechniken!

6 Gehört das Fluency-Meter von Glück dazu?

7 Vorhanden: Dohmen et al 2000

8 Leser sind Menschen mit Lesefähigkeiten, die dem Stand Ende der zweiten Klasse oder besser entsprechen.

9 So könnten Diagnosen lauten „schweres beginnendes Stottern“ oder auch „leichtes chronisches Stottern“.

10 Begriffe wie „Entwicklungsstottern“ oder „physiologisches Stottern“ sind nicht angemessen!

11 Risikovalenz = Aussage, wie hoch das Risiko für einen chronischen Verlauf eingeschätzt werden muss. Dabei werden die drei Untersuchungsbereiche Stottersymptomatik, psychische Reaktionen und Risikofaktoren einbezogen.

12 Schüler von Van Riper! Brachte dessen Vorgehen für Erwachsene in eine kindgerechte Form.

13 Psychotherapie im Sinne von analytischen /tiefenpsychologischen oder gesprächspsychotherapeutischen Verfahren.

14 Das Symptom wird „eingefroren“, bis das Signal zum Weitersprechen erfolgt. Kind sollte auch Therapeutin einfrieren dürfen, um die Erfahrung der Kontrolle zu machen. Später werden auf ein Signal (Berührung) hin auch echte Symptome eingefroren, dann locker beendet (Pullout). Achtung, MUTPROBE!!! Loben und sich freuen ohne Ende!!

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

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